Unsere erste Kritik: „1984“ – Beklemmende Zukunftvision im alten Schauspielhaus

Wie kann eine Kritik eines Stücks in diesem Blog aussehen? Niklas hat sich „1984“ angesehen und seine und unsere erste Theaterkritik geschrieben.

1984 ÜberschriftRyan McBryde inszeniert George Orwell’s berühmten Zukunftsroman „1984“ im alten Schauspielhaus.. Die beängstigende Atmosphäre des Buches überträgt sich auf die Bühne – und auf den Zuschauer.

Es gibt kein Entkommen. Winston lebt in einem totalitären Staat, der jeden lückenlos überwacht. Denken – verboten. Liebe – verboten. Glück – verboten. Irgendeine Handlung ausführen, die nicht zum Nutzen der Partei führt – Hochverrat. Daran zu denken, etwas davon zu tun ist das Schlimmste – das Gedankenverbrechen. Und Wahrheit ist das was die Partei vorgibt. Winston ist ein Rädchen im System, fälscht die Vergangenheit im Ministerium für Wahrheit.

1984-Presse2_HaymannMit viel technischem Einsatz kommt die Überreizung auch beim Zuschauer an. Schnelle Szenenwechsel. Videoeinsatz. Etwas zu laut. Eine grauschwarzes Bühnenbild. In der Wand versenkte Kästen bilden abwechselnd Winstons Heim, sein Büro, ein Versteck und schließlich eine medizinisch anmutende Folterkammer. So beklemmend wie die Buchgrundlage.

Insgeheim will Winston gegen das System vorgehen. Er führt Tagebuch, geht eine Liebschaft mit der Kollegin Julia ein und versucht Kontakte zu einer Widerstandsgruppe zu knüpfen.
Ab diesem Augenblick ist es klar: „Wir sind Tote“. Bis zur Verhaftung, Folterung, Erschießung und völligen Auslöschung aller Spuren von Winstons Leben ist es nur eine Frage der Zeit. Winston hat nie existiert.
Das letzte Drittel des Stücks besteht damit aus Folterszenen. An denen wird nichts beschönigt. Es geht nicht um Geständnisse. Auch nicht um Strafe. Es geht um „Heilung“. Erst wenn die Gehirnwäsche gelungen ist, ist es vorbei. „Wir zerbrechen deinen Geist und setzen ihn neu zusammen, so wie wir es wollen.“ Die Darstellungen der Gewalt sind für manchen zu viel, ein paar Zuschauer können sich das nicht weiter ansehen.

Schauspielerisch wird vor allem diese Episode beeindruckend umgesetzt. Nur schade, dass diese Leistung stellenweise durch den Einsatz von Video-, Licht- und Tontechnik in den Hintergrund gerät. Dennoch: Man sieht nicht Ralf Stech, der den gefolterten Winston spielt, sondern denkt, Winston werde wirklich gefoltert. Nur die Liebe nimmt man Tina Eberhardt (Julia) und Ralf Stech (Winston) nicht ganz ab. Die Charaktere Winston und Julia lieben sich aus Verzweiflung, sonst keinem Menschen vertrauen zu können. Die Schauspieler zeigen stattdessen dass Bild einer fast gewöhnlichen Liebe, die es in der Welt von „1984“ nicht mehr gibt.

Natürlich bleibt das Theaterstück hinter dem Roman zurück, dessen Vielschichtigkeit nicht auf einer Bühne darstellbar ist. Dennoch ist die Übersetzung ins Theater gelungen. Weil einen das Stück nicht mehr loslässt, wenn man den Zuschauerraum verlässt. Weil die Angst und das Leiden für den Zuschauer spürbar ist.
Und auch weil das Alte Schauspielhaus etwas Seltenes geschafft hat: Ein dezenter und deshalb gelungener Bezug zur Gegenwart. Der Staatsfeind Emmanuel Goldstein ähnelt sicher nicht zufällig Edward Snowden. GR-Codes auf den Kostümen erinnern an die technische Überwachung der Gegenwart. Bei der Folter gibt es orangene Overalls, die aus Guantanamo stammen könnten.

Und so stellt sich die Frage wo die Wirklichkeit die Fiktion schon überholt hat. Wir werden noch lückenloser überwacht als Winston und Julia. Es fehlt noch eine Regierung, die skrupellos genug ist, das zur absoluten Kontrolle zu nutzen. Wobei – wenn man sich auf der Welt umsieht, gibt es doch einige aussichtsreiche Kandidaten für die Rolle des „Big Brother“.

Autor: Niklas Becker
Fotos: Jürgen Frahm, Sabine Haymann