„Seid ihr mit eurer Erschießung einverstanden?“

Das fragen die Spielenden das Publikum. Und was bis eben nur Zuschauer war und höchstens auf Anweisung gehandelt hat, das wird mit einem Mal zum Handelnden und ruft laut und aus einem Mund: „Nein!“

Es ist dieser Moment. Dieser Moment der für das ganze Stück steht. Der Moment, der mitreißt und ganz nebenbei die sicher geglaubte Rollenverteilung zwischen Zuschauern und Spielenden revolutioniert.

Das Theaterkollektiv She She Pop hat das Lehrstück „Einige von uns“ gemeinsam mit Angestellten aus unterschiedlichen Sparten des Würtembergischen Staatstheater entwickelt. Der Requisiteur, der Schreiner, das Abendpersonal, die Verwaltung, aber auch Schauspieler. Mit einem Mal haben Menschen, die bis jetzt unsichtbar und unbeachtet hinter den Kulissen gearbeitet haben ihren Platz auf der Bühne. „Man hat mich nicht gesehen, aber eigentlich war ich dabei“, wird zu ihrem ironischen Selbstverständnis. Denn ohne sie wäre Theater im Schauspiel Stuttgart kaum möglich – doch gerade dann, wenn sie ihre Arbeit gut machen, werden sie nicht beachtet.

In „Einige von uns“ prallen Welten aufeinander: Die freien und unkonventionellen Elemente des Kollektivs ohne feste Regie, Spielende und Autoren. Und die geregelte, hierarchische Arbeitsweise eines Repertoire-Theater wie dem Schauspiel Stuttgart.

Julian MarbachDas Stück bringt solche Gegensätze auf und macht sie zum Thema. Zum Beispiel wenn sich Entscheidungsträger und Ausführende auf der Bühne gegenüber stehen und mit Fragen bewerfen, die keine endgültige Antworten kennen, sondern immer wieder neu beantwortet werden müssen. Fragen, die aber nie etwas vorwerfen, sondern immer nach Verständnis für die Anderen suchen.

Wovor schämt ihr euch?“
Was sind eure Ansprüche?“
Was ist sicher?“
Wer seid ihr?“

Und immer wieder: Die direkte Ansprache des Publikums. Man ist gezwungen, die Fragen immer auch selbst mitzudenken. Und darüber nachzugrübeln. „Einige von uns“ ist kein Stück das man entspannt ansehen kann um danach gut unterhalten oder eben enttäuscht zurückzubleiben.
Es ist ein Stück, das einen nicht loslässt, wenn man den Saal verlassen hat.

Die Antworten zeigen eine große Menschlichkeit. Eine Schauspielerin gibt auf die Frage nach dem Scham die ehrliche Antwort, einmal auf die Aufforderung „Geh ab“ zum Anlass genommen zu haben, richtig loszulegen, statt die Bühne zu verlassen. Viel Ehrlichkeit. Viel Witz und viel Ernst. Und durchaus mit Spontanität. Antworten aus dem Stehgreif und geplante Elemente wechseln sich ab und zeichnen ein authentisches Bild der Lebenswelt der Spielenden.
Dann: Die Zusammenfassung der Antworten. Und die Aufforderung nach der Auseinandersetzung eben das aufzugeben und hinter sich zu lassen.
Denn bei „Einige von uns“ spielt es keine Rolle, wo man herkommt, ob man beim Theater in der Maske, Requisite, Technik oder auf der Bühne arbeitet. Auf dieser Bühne ist all das ein uneiniges und eigensinniges Kollektiv aus Gleichen geworden.

Es werden Konfliktlinien aufgebrochen und erörtert. Zwischen Menschen hinter und vor der Bühne. Zwischen Individuum und Kollektiv. Zwischen den künstlerischen Ansprüchen von She She Pop und den Angestellten des Württembergischen Staatstheater. Zwischen Zuschauer und Spielenden.

Grenzen aufzubauen und wieder aufzulösen. Das ist das Prinzip des Lehrstücks nach Brecht: Alle Strukturen und Trennungen bearbeiten, thematisieren und auflösen, letztlich die Zuschauenden zu Spielenden zu machen und umgekehrt. Das wird immer wieder versucht, gelingt es? Die Zuschauer bleiben letztlich sitzen und auch wenn Sie einige mal auf eine Leinwand projizierte Texte im Chor ablesen dürfen bleiben sie doch zum Großteil in der Rolle des Zuschauers. Erfreulich ist, dass diese Rolle zumindest infrage gestellt wird. Überwunden wird sie aber noch nicht.

Nach einer Diskussion mit (eingeplanten, festgelegten) Delegierten des Publikums wird erneut gefragt:
Seid ihr mit eurer Erschießung einverstanden?“
Die Jas, Neins und Vielleichts gehen wirr durcheinander.

Text: Niklas Becker
Bilder: Julian Marbach