Dystopien-Boom

Die Tribute von Panem lockt Millionen in die Kinos. In Stuttgarter Theatern werden nahezu parallel Orwells 1984, Samjatins Wir und Clockwork Orange gespielt. Dystopien boomen. Warum eigentlich? – Essay

Die Welt ist ein Jammertal, sie ist beschissen und sie wird von völlig bescheuerten Leuten beherrscht. Hilfe ist nicht in Sicht. Entspannt euch, zu unserem Glücke war das bloß die Beschreibung einer zukünftige Welt, die sich ein kluger Schriftsteller ausgedacht hat, und weil diese Zukunft furchtbar ist, heißt die zugehörige Geschichte Dystopie. Und Dystopien boomen.
Aber warum? Warum wollen wir wissen, in welch düsteren Farben sich irgendjemand, der wahrscheinlich schon lang tot ist, die Zukunft ausgemalt hat? Warum sind wir so geil auf diese gehoben Gruselgeschichten? Wie immer besteht die Wahrheit aus lauter Fetzen guter Ideen und Antworten.

Womöglich lieben wir Dystopien, weil wir hoffen, aus ihnen etwas über die Gegenwart zu lernen. Oder über die Vergangenheit. Oder über uns. Womöglich lieben wir sie außerdem, weil uns das Abstoßende dieser Zukünfte so reizt, genau wie bei Horrofilmen, die ganzen schlimmen Sachen, Stacheldraht in Enddärmen, Kinderköpfe auf Tellern fetter Mitbürger, wir schütteln uns und dann grinsen wir. Womöglich lieben wir Dystopien auch, weil Sex und Tod, Leben und Sterben, Fiktion und Realität in diesen Geschichten so nahe beieinanderliegen, sich so sehr umschwärmen und ineinanderfließen wie sonst nur selten.
Wars das schon? Nein, aber für den Rest brauch ich etwas mehr Platz.

Viele Dystopien sind kanonisiert, was heißt, dass sie unter gebildeten Leuten so richtig fame sind, und wer dazugehören will, der muss sie auch cool finden, so wie der Rest der Clique. Dystopien haben ja auch ihre Vorzüge, gerade unter jüngere Leuten finden sie leichter Anhänger als sonstige Klassiker, auch ich liebe Dystopien. Und doch kann man sich fragen, warum gerade heute, da Freiheit, Demokratie und Wohlstand in unseren Breiten so sichergestellt scheinen wie nie zuvor, sich so viele Menschen für komplett aus dem Ruder gelaufene fiktive Zukünfte interessieren, die aus heutiger Sicht schon wieder Vergangenheit sein könnten.

Wie gesagt, wir lieben Geschichten, die nach Horror- und Gespenstergeschichte duften, und je besser ein Publikum materiell gestellt ist, desto mehr dürstet es nach Kunstblut. Die alten Griechen erfanden hinter hohen Stadtmauern die Trägodie, heute geht man nach der Büroarbeit in einen Tarantino, dann zu McDonalds. Unser Alltag ist frei von Mord und Totschlag, und deswegen wollen wir Geschichten davon erzählt bekommen.

Jede Dystopie steht im krassen Gegensatz nicht nur zu unserem Alltag, sondern auch zu unserer grundsätzlich Haltung zum Weltgeschehen – zu geköpften Jesiden, zu Verbrechen der Deutschen Bank und zum Windpark gleich nebenan – also das, was man früher Ideologie nannte. Freiheit, wir stellen sie über fast alles, Freiheit des Geldes und Freiheit der Meinung, unsere schöne freiheitlich-demokratische Grundordnung, diese Ehe zwischen Volksherrschaft und Kapitalismus, die kriselt, wie man hört.

Dystopien lassen das Gegenteil unserer Überzeugungen lebendig werden. Das Gegenteil von uns. Die Welt von 1984 ist rundumüberwacht, es herrscht so ziemlich das Gegenteil von Freiheit. Die Brave New World ist deutlich schöner, nur wenige fehlgeleitete Figuren protestieren dagegen, weil darin kein Platz für echte Gefühle und Kreativität ist. (Ganz im Gegensatz zu unserer Realität, man muss nur in die Schule gehen oder arbeiten, alles voller Tränen und Malerei und Streichquartette, den lieben langen Tag.)

In Samjatins „Wir“ hingegen regiert die reine Vernunft, worunter der Autor die nackte Mathematik versteht, die den Tag ordnet, jeder Sekunde eine bestimmte Tätigkeit zuordnet, essen, arbeiten, ficken. Die Gesellschaft bewegt sich im Gleichschritt und baut an Raumschiffen.

Freiheit.
Das ist es also. Freiheit ist in jeder Dystopie abwesend. Genau wie die Liebe, für die die Freiheit benötigt wird, wie man hört. Freiheit, ewiger Menschheitstraum, Freiheit, großes Thema von Beethovens Neunter, die Alex DeLarge so liebt. Die Freiheit, gegen eine unfreie Gesellschaft Krieg zu führen. In Dystopien scheitern die Protagonisten auf tragische Weise mit diesem Krieg, und meistens sterben sie daran.

Wozu dient es, das Scheitern der Helden? Es dient dem Kontrast, die freiheitsliebenden Protagonisten lassen die freiheitslose Gesellschaft noch auswegsloser erscheinen. Wenn die Helden scheitern, wirkt die Unterdrückung noch furchtbarer. Und je widerlicher die fiktive Welt nach Versklavung stinkt, desto mehr duftet unsere Gegenwart nach Freiheit.

Wir fühlen uns bestätigt. Wir spüren, wir haben es richtig gemacht. Wir sind die Guten, und deswegen geht es uns gut. Dystopien gestatten unserer Gesellschaft ein narzisstisches Räkeln, wenn ihr ein Spiegel vorgehalten wird, und diese sogenannte Gesellschaft, das sind doch nur die vielen Ichs, die verwirrt sind von der ganzen Reizüberflutung, die sich ängstigen und schlecht aus dem Mund riechen dabei.

Das ist alles keine Entschuldigung, nicht in die nächstbeste Dystopie zu gehen. Das alles ist auch keine Amnesie für jene, die Orwells Schreckensvisionen und Huxleys unsteten Schreibstil fürchten. Das alles ist kein Pardon für verdammte Faulpelze! Lest! Aber denkt hinterher, und denkt ans Jetzt.

Setzt 1984 nicht einfach mit dem Stalinismus gleich und tut dabei so, als habe totale Überwachung durch moderne Technik nichts mit dem Heute zu tun. Glaubt nicht, der verkappte totalitäre Rationalismus, der in Wir die Welt beherrscht, mache nur auf das revolutionäre Russland bezogen Sinn, es heißt doch nur, das Politiker denken wie Unternehmensberater. Und wo ist eigentlich der Unterschied zwischen Ritalin für anstrengende Kinder und Gehirnwäschen für Schwerverbrecher wie Alex?

Jetzt würde ich meinen Beipackzettel zu Risiken und Nebenwirkungen gern mit einem Vergleich abrunden. Einem Vergleich, der irgendwie mit der Technik und dem Rubikon zu tun hat, der nicht überschritten werden darf. Aber ich bestell mir lieber was Angenehmes auf Amazon, was Teures und richtig Cooles, meine persönliche Freiheit, ihr wisst schon.
Und das kriegt ja keiner mit, was ich mir da kauf, ist ganz anonym.

Text: Philipp Neudert
Bild: Berthjan und John Mark Herskind