Blut ist nicht alles

Clockwork Orange. Keine Uhren. Keine Orangen. Kein Blut. Ein Mann. Vier vergewohltätigende Damen. Clockwork Orange im Schauspiel Stuttgart Nord. Noch bis 30. Mai. Also Beeilung.

Gleich zweimal haben wir „Clockwork Orange“ in einer Kritik beleuchtet.

Ein Bühnenbild ist abwesend.
Der Vorhang ist aus milchige Plastikfolie. Milch steht auch in Flaschen bereit, sie ergießt sich im Lauf des Abends über die Figuren. Ein Glück, der Boden ist mit milchdichter Plastikfolie ausgelegt. Darauf tummeln sich Alex, der charismatische Antiheld, seine Droogs und seine Opfer. Erstere von Damen verkörpert. Erste, längst nicht letzte Überraschung.
Stefan Hornbach, einziger männlicher Mitwirkender, verkörpert zumeist die Opfer der violenten Truppe um Alex. Den Schriftsteller wie auch die gealterten Dame mit Cocktailkleid und zunehmendem Irrsinn, die sich ihrer Reize durchaus bewusst sein will. Haarige Angelegenheit. Godje Hansen, Alexandra Lukas, Varya Popovkina und Carolin Wiedenbröker als Droogs sind gnadenlos.
klein1Grundsätzlich stößt der Abend alle ab, die allergisch sind gegen Überraschungen. Für den Rest ist er Hochgenuss. „Ludwig van” und Slayer, „Georg Friedrich“ und Rammstein, alles einem Stück, und es funktioniert. Burgess‘ im eigens erfundenen Slang verfasster Text wird mit intertextuellen Verweisen in die Gegenwart gewürzt. Mal wirkt eine Szene realistisch, und plötzlich tritt eine Figur aus der schönsten Gewaltorgie heraus und jammert über die eigene verkorksten Kindheit. Unmengen, riesige Unmengen Milch schütten die Droogs symbolisch über ihre Opfer, was so viel heißt wie: ihnen brutale Gewalt antun. Dazu Heavy Metal. Schillers „Freude schöner Götterfunken” mit Beethovens großer Melodie wird mal verletzlich ins Mikro gehaucht, mal von den Droogs grölend als Sauflied verwendet. Poetischer Wunsch nach Brüderlichkeit meets blutige Realität, Kontrast. Kontraste und andauernde Stilbrüche, davon lebt der Abend.
Statt findet alles im Schauspiel Stuttgart Nord, und es ist ein „Projekt der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Stuttgart und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.“* Super. Nur die Zusammenarbeit mit der milchverarbeitenden Industrie bleibt unerwähnt, die wird infolge des Stücks bald die Preise erhöhen können. Wirklich, Unmengen von Milch, die da verschüttet werden, Unmengen.

klein2Zuerst schüttet Alex am meisten. Schüttet auf seine Opfer und schüttet auf seine Freunde, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzen. Dann wird er verraten und selber vollgeschüttet. Also alles voller Milch und Alex im Gefängnis, er unterzieht sich einer neuartigen Behandlungsmethode, die ihn bald frei macht. „Frei/wie ein Küken im Ei.“ Die Wissenschaftler bringen lauter Reimvergleiche vor und Alex ist geheilt. Er kann das alte Rein-raus-Spiel nicht mehr spielen und gewaltunfähig ist er auch. Zu einem Uhrwerk ist er geworden, und alle Welt nutzt seine Wehrlosigkeit aus. Lediglich ein Schriftsteller nimmt sich seiner an, eben jener, den er und seine Droogs so zugerichtet haben. Während der Roman noch weitergeht, bricht das Stück hier ab. Warum denn auch nicht. Alex hinter besagtem milchigem Vorhang schreit unhörbar, aber die Plastikfolie bleibt eisern.

Hier wird gezeigt, Clockwork Orange geht ohne Blut. Ohne Orangen. Ohne Uhren. Als Bühnenbild reicht Plastikfolie. Die hat ja auch viele Vorteile. Fängt die Milch auf. Und für eine Vergewohltätigungsszene – ein von einer Dame verkörperter Alex und ein junges Mädchen  – kann man sich darunter zurückziehen. Überhaupt, Geschlechterrollen, die lösen sich ganz auf. Nichts bleibt übrig. Das ist der Gegenwartsbezug. Wer ihn bezeugen will, der gehe. Am 28. und 29. und 30. Mai hat man noch Gelegenheit. Also Beeilung. Penunzia ist keine Ausrede, denn: „Geld ist nicht alles.“
* Vgl. https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/clockwork-orange-adk/#

Text: Philipp Neudert
Bilder: Robert Sievert

1 Kommentar zu „Blut ist nicht alles“

  1. Pingback: „Katzenlady? – Woher kennt der meinen geheimen Namen?“ - TheaterNETZ

Kommentarfunktion geschlossen.