Götter und Wunder über Stuttgart

Wirtschaft. Weltverbesserung. Wunder. Lachen. Liebe zu einer Statue. Landschaftsausblick. In Thomas Bissingers Tragikomödie „Die Verantwortlichen“ hat all das Platz. Am 3. Juli war Premiere. Theaternetz war dabei. (Achtung. Der folgende Text enthält Spoiler!)

Es war nicht so geplant. Aber er ist jetzt halt aus Stein. Er, Herr Wannberg, Herr Kevin Wannberg, baldiger Erbe der Wannberg Investment, starrt mit blinden Augen in die Welt und rührt sich nicht. Eine Entsteinerung wäre tödlich gefährlich. Er muss bleiben, wie er ist.
Der Ort: Bühne über Stuttgart. Das Event: „Die Verantwortlichen“, Uraufführung 03.07 2015. Gespielt von: „Volles Rohr Theater“, eine vorwiegend studentische Laiengruppe, was sie das Publikum jedoch bald vergessen lässt.
11719908_1769068166653228_591688647_nAlles fängt ganz normal an: Da mühen sich hochmotivierte Gründer einer Hilfsorganisation disputierend zu einer sehr verlassenen Herberge. Dort wollen sie ihren Weltrettungsplan ausarbeiten. Jedoch scheint es sich bei den Gastgebern nicht um gewöhnliche Leute zu halten, aus purer Bequemlichkeit verwandelt die Kellnerin Wasser in den verlangten Wein. Bald steht fest: Die Hilfsorganisatoren haben es mit vier eremitischen Göttern zu tun. Von den Weltrettungsplänen sind diese bald überzeugt, sie beschließen zu helfen und tun es auch: Als das Erstgespräch der Hilfsorganisation mit einer finanzstarken Investmentgruppe nicht wie gewünscht verläuft, ergreift die so proletenhafte gemimte und auf übelst assi getrimmte Göttin der Pubertät (einmal als „Göttin der lohngedumpten Friseure“ tituliert) kurzerhand Besitz von einem der Wannberg-Anwälte, der plötzlich alle Vorschläge unterstützt, sodass die Kooperation verwirklicht wird. Hier kommt Kevin ins Spiel, der arbeitsmüde und partyfreudige Erbe, der sich erstmal um die Hilfsorganisation kümmern soll, bis Mama Wannberg Zeit dafür hat. Nur wird er halt versteinert, der Kevin, bevor er irgendwas erreicht hat.
In guter Tragikomödien-Manier verstricken sich die Protagonisten zusehends, je mehr Mühe sie sich geben, die wachsenden Probleme zu bekämpfen, wobei mehr Lachtränen als Blut fließen. Das polyphone Inhaltsgerüst des von Thomas Bissinger verfassten Textes mit vielen Nebenhandlungssträngen (etwa die Suche nach dem Bernsteinzimmer oder das exzessive Spielen und Besprechen „des MMORPG-Hits des Jahrzehnts“ während der Arbeitszeit) sorgt für Abwechslung, muss aber gegen Ende um seine Kohärenz und überhaupt den Zusammenhalt kämpfen. Darüber können auch die bis zum Schluss sehr bühnenwirksamen, packenden und sprachlich äußerst gut gestalteten Szenen nicht hinwegtäuschen.
11668136_1769068193319892_1199345201_nWährend des Stücks entfalten sich einige Konflikte: Ideale vs. Realismus; Revolution vs. Reform, politische Korrektheit vs. Lockerheit und Coolness. (Darf man „Grieche“ als Schimpfwort verwenden? Auch wenn man selber einer ist?) Und das kleine und beschauliche Leben im Kontrast zum nach Größe strebenden Heldentum. Der Windgott Boreas findet nach langen Jahren zu seiner heroischen Natur zurück und verfällt der Hybris, was bald zu viel Zerstörung in fremden Ländern führt und ihn immer weniger sympathisch erscheinen lässt. Wenn man so darüber nachdenkt, lassen sich viele dieser Konflikte nicht nur auf das Leben überhaupt, sondern auch auf den Alltag übertragen. Das ist wohl der zeittypische Gegenwartsbezug.
Leider wird keiner der Konflikte auf der Bühne aufgelöst, Boreas etwa ist am Schluss weder einsichtig noch vernichtet. Man mag es postmoderne Vieldeutigkeit nennen, aber der Konflikt ist schlicht nicht zum Ende ausgetragen.
In die Stille hinein zirpen Grillen. Zirp. Zirp. Zirp.
Überhaupt muss die Location besonders erwähnt werden: Die Bühne über Stuttgart befindet sich in einem Weinberg mit großartiger Aussicht. (Vielleicht eins der teuersten Bühnenbilder aller Zeiten, orginalgetreuer Fernsehturm und sehr realistische Züge, die immer wieder den Hintergrund durchqueren; das ist wohl der Bezug zur „Welt“, um die es so häufig geht.) Nach der Pause ist Scheinwerferlicht, und mit ihm kommt endgültig Theaterstimmung.
Glücklicherweise gibt es bis kurz vor Schluss noch überraschende Wendungen und immer kompliziertere Verwicklungen; ein am Ende abgehaltenes Gericht bringt aber keine Klarheit, vor allem, weil die vom außer Kontrolle geratenen Windgott zur Richterin berufene Bea nicht mitmacht. Es bleibt nach viel Überraschung, viel Lustigem und viel Unterhaltung vor allem: viel Chaos zurück. Was das Publikum aber nicht weiter zu stören scheint, schließlich ist man gut unterhalten worden. Als kleinen Schlussgag gibt’s noch einen metafiktionalen Bruch (der Begriff ist so cool, den musste ich jetzt schreiben), eine Figur unterbricht den Schlussapplaus, um noch schnell einen Monolog zu halten, weil das so im Skript steht. Während des absichtlich textunsicheren Gestammels transportieren die anderen Schauspieler schon Aufbruchsstimmung, unterhalten sich, rauchen, der Monolog wird nichts, und grade deswegen kommt seine Botschaft so gut an: Denkt nach! Selber nach! Also zum Schluss noch ein bisschen Aufklärung. Und damit haben wir ein schönes Gesamtpaket.

Text: Philipp Neudert

Mehr Infos:
„Die Verantwortlichen“ von Thomas Bissinger
Bühne über Stuttgart
Volles Rohr Theater