Grenzerfahrung – Tanz durch die Wand!

Schwarz und rot. Ein gutes Dutzend Frauen, nur zwei Männer. Ein Rollstuhlfahrer, viele Sommersprossen. Eine Frau trägt einen Gürtel, ein Mann einen Schnurbart. Eine Frau von 72 und ein Mädchen, das ist 17. Hart an der Grenze ist ein Stück der Kontraste und das Theater der Generationen erfreut sich einer einzigartig vielseitigen Besetzung. Es ist ein faszinierendes Projekt: Im März kam beim Jungen Ensemble Stuttgart eine Gruppe Theaterbegeisterter zusammen – ein Spielklub, Laien – die Jüngsten und die Ältesten. Ihre Frage war: „Was ist das eigentlich: Grenzen?“ Und nun stellen sie ihr Werk vor, eine Collage aus Tanz, Monolog und Streitgesprächen, aus Improvisation und Pöbeldiskussion. Ein Feuerwerk der freien Bewegungen, um alles zu sagen und bloß nicht übersehen zu werden.
Stille. Die erste Darstellerin betritt das Studio, blickt nicht nach links oder rechts, spricht ins Mikrofon: „Was sind Grenzen?“ Die nächsten, einer nach dem anderen, beanspruchen den Raum für sich und erklären, was Grenzen für sie sind. „Respekt.“ „Ein Seiltanz!“ „Im Alter werden die Grenzen immer enger.“ „Eigentlich was Schönes.“ Die Stimmen erklingen zeitgleich, überlagern sich; das Publikum ist überfordert und reagiert perplex. Was ist hier los? Ein intelligenter Einstieg, denn schon denkt jeder Zuschauer an seine eigenen Grenzen und weiß doch nicht so recht, auf was es dieses Stück abgesehen hat. Auf Diskriminierung? Einschränkungen im Alltag? Persönlichen Freiraum? Auf alles und nichts.

TMF_8851Die ersten Tanzbewegungen deuten sich an, manifestieren sich in hartem Aufstampfen und Kampftritten. Die Tänzer durchbrechen Grenzen, durchschlagen unsichtbare Wände in ihrer immer wilder werdenden Performance. Die Bewegungen und Impulse kommen allesamt aus der Spielgruppe und wurden nicht durch Trainer vorgegeben. Man spürt: Der Tanz fasst ihre Gedanken. Und doch ist die Darbietung zu abstrakt – das Publikum kommt nicht hinterher – bis es endlich soweit ist und das Eis bricht:

In einem wilden Aufruhr werden Fragen und Einwände in die Menge geworfen, ein buntes Tohuwabohu und das Publikum ist froh, denn nun weiß es, dass es lachen darf. Die ersten Minuten waren stark in ihrer Tiefe und der Spannweite der Gedanken, doch sie waren belastend. Nun ist es leichter und der Trend setzt sich fort: Ein weiteres Bild wird entworfen und Menschen werden in Gruppen eingeteilt. „Hier sind die Alten, hier die mit den langen Beinen!“ Spielerisch albern werden Grenzen überwunden, wenn Oma und Studentin die Plätze tauschen.

Seinen ersten Höhepunkt erlebt „Hart an der Grenze“ in einem Moment der Kälte. Mit dem Spaß ist es plötzlich zu Ende; ein Mädchen hat zu laut gesungen, sie hat die anderen gestört; jetzt wird sie ausgegrenzt. Nach und nach wird einer nach dem anderen in die Ecke gestellt, bis nur noch ein Wartender übrig ist. Doch die anderen weigern sich, das Spiel mit ihm fortzutreiben: „Behinderte grenzt man nicht aus!“ „Aber wieso denn nicht?“ Der Monolog eines Menschen, der seine Sonderbehandlung leid ist. „Ihr grenzt doch die Gesunden auch aus. Wenn wir Ausgrenzen spielen, will ich auch ausgegrenzt werden.“

Wie soll das Publikum darauf reagieren? Die Zuschauer werden sich nicht einig: viele schweigen, einige versuchen der Anspannung mit gezwungenem Gelächter Luft zu machen. Unbehaglichkeit – sie hat das Stück eröffnet und hier sind wir wieder: Nahe an Grenzen zu wandeln heißt auch immer, die eigene Komfortzone zu verlassen. Vielleicht ist das die große Stärke dieses Stückes: nie kann das Publikum ruhig sitzen, immer wieder wird es herausgefordert. Immer wieder gerät es an seine Grenzen.

Im weiteren Verlauf der Aufführung fällt es dem Publikum leichter, die Abstraktheit der Performance zu fassen. Tanzszenen werden nun besser verstanden; es hat sich eine Dynamik entwickelt, die nötig ist, die Konzentration bis zum Ende aufrecht zu erhalten. Viele Themen werden angesprochen: Streit mit den Eltern, Tabubrüche, Homosexualität, häusliche Gewalt. Alles gipfelt in dem Ausruf einer Tochter, die sich zuhause nicht mehr sicher fühlt: „Lieber Gott, vielen Dank, dass ich normal geworden bin. Aber meinst du nicht auch, langsam ist es wirklich hart an der Grenze?“

TMF_8731Am Ende des Stückes äußert der Darsteller, der schon mit seinem Monolog auf sich aufmerksam gemacht hat, seinen Wunsch, einmal alleine schwimmen zu dürfen. Es herrscht Stille, Betroffenheit, denn aufgrund seiner körperlichen Behinderung scheint es unmöglich. Bis die erste auf ihn zu läuft und die nächste und dann alle anderen. Sie heben ihn aus seinem Rollstuhl, tragen, halten ihn. Und als er auf dem Rücken seiner Mitspieler ruht und sie sich nach links drehen und nach rechts, da schwimmt er – schwebt er. Und er schwebt bis das Studio im Dunkel versinkt.

„Hart an der Grenze“ ist ein sehenswertes Stück. Es ist unkonventionell, persönlich und zwingt einen zum Nachdenken. Dass es sich um Laientheater handelt, ist nur in den kleinen Nebensächlichkeiten zu sehen, und nicht abträglich, ganz im Gegenteil! Es verleiht der Aufführung eine ganz besondere Qualität, eine Authentizität, die man bei Berufsschauspielern vermissen kann. Wer einen Schritt fort von der Ästhetik der professionellen Theaterszene und einen in Richtung Alternative wagen will, kann hier seinen Beginn tun und wird nicht enttäuscht werden.

Text: Merlin Krzemien
Bilder: Junges Ensemble Stuttgart
Das JES hat übrigens auch ein eigenes jungjournalistisches Projekt in dem diese Kritik ebenfalls erschienen ist. Gerne könnt ihr euch auch dort umsehen: https://jes-stuttgart.de/jes-reporter.html