Das Theaterprojekt von nebenan

Tick, tack, tick, tack. Jedes Geräusch schallt von den hohen, leeren Altbauräumen wieder. Es wirkt surreal. 7:26 ‒ die Balkontür öffnen, mit den Meerschweinchen reden. Ich schaue in den Käfig. Er ist leer. „Hallo… ihr Süßen… Wie geht es euch?“ Etwas ratlos stehe ich auf dem Balkon, nehme meine Kaffeetasse und setze mich auf den Stuhl. Im Haus gegenüber geht ein Licht an.

Weißt du eigentlich, wer deine Nachbarn sind? Sicher, du siehst sie jeden Tag den Hausflur entlang gehen, hörst immer wieder Geräusche von drüben, Türenschlagen, Geschirrklappern, die Klospülung, laute Musik. Doch wie kannst du wissen, ob das wirklich eine normale Familie ist? Genauso gut könnte die Wohnung nebenan das Quartier einer Terrorvereinigung sein, ein geheimes Lager eines Untergrundnetzwerks… oder ein Theaterprojekt.

Das Projekt „Familie Weiß“ ist eine Stadtraumintervention des Regie- und Autorenkollektivs Hofmann&Lindholm. Seit 2000 realisieren sie Theater- und Filmprojekte, entwickeln Installationen und Interventionen. Familie Weiß ist eine dreiköpfige Familie, die nur in den Geräuschen, die sie macht, existiert. Hunderte Freiwillige simulieren mithilfe von festen Skripten ihren Alltag. Wer Familie Weiß erleben will, muss entweder zufällig ein Nachbar sein oder selbst mitmachen. Das funktioniert so, dass man sich bei Hofmann&Lindholm meldet und dann einen Termin bekommt, zu dem man zur Wohnung kommen soll. Dort erhält man ein Skript, auf dem haargenau beschrieben ist, was man in welcher Minute seiner Schicht zu tun hat.

Ich höre oben Türen schlagen, eine Klospülung nebenan. Hellhörig sind diese Wohnungen wirklich. Bei mir läuft das Wasser in der Dusche, die Zahnbürste, der Fön, das Radio – alles habe ich eingeschaltet. Alleine in dieser Wohnung, die nur vorgaukelt, eine zu sein, befällt mich ein beklemmendes Gefühl.

Es soll nicht um Schauspielerei oder Einfühlung in das Leben der Familie gehen. Man folgt der Partitur und beobachtet dabei, ist Ausführender und Publikum zugleich. Das Stück ist die gesamte Wohnumgebung, die Nachbarn, unser gesellschaftliches Leben. Die Geräte und Möbel produzieren zwar viel Lärm und sehen von bestimmten Blickwinkeln echt aus, sind aber nur Kulissen.

7:46 – ins Kinderzimmer gehen. Den Wecker klingeln lassen. Den Kassettenrekorder anschalten. Wie ging das nochmal? 7:48 – den Fußball mehrmals gegen die Wand schießen. Weil ich etwas zu früh dran bin, mache ich das ein bisschen öfter.

Sven Lindholm ist begeistert, wie gut das Projekt läuft. „Am Anfang waren wir uns nicht sicher, ob wir genug Komplizen finden. Inzwischen sind die Schichten im Oktober ausgebucht, der November ist auch bald voll. Die meisten wollen auch mehrere Schichten übernehmen.“

Alle möglichen Arten von Menschen beteiligen sich hier. Frauen wie Männer, Alte wie Junge, Bankmanager und Supermarktkassierer, theateraffine Stuttgarter, aber auch Leute, die nur kurz zu Besuch sind, und in der Zeit etwas Außergewöhnliches machen wollen. Menschen, deren Freunde gesagt haben: „Hey guck dir das mal an! Voll fancy, was dort passiert.“

Eines Abends finde ich mich mit vier weiteren Leuten in der Wohnung wieder. Im Skript stehen Dinge wie 21:34 – angeregte Unterhaltung, 21:36 – gemeinsames Lachen, 21:45 – Zeigen der Urlaubsfotos auf dem Rechner im Wohnzimmer, lautes Berichten der Urlaubsereignisse. Hier stehe ich nun, leicht beschwipst vom Sekt, den ich trinken sollte, und erzähle vier Fremden, wie aufregend das Kamelreiten in Ägypten war. Das glaubt mir doch niemand, wenn ich das jemandem erzähle. So was passiert nur im Theater.

Bis zum 30. November läuft das Projekt noch. Danach wird Familie Weiß wieder ausziehen. Bis dahin kann man sich jeden Tag Aufzeichnungen aus der Wohnung im Foyer des Schauspielhauses ansehen. Wer noch daran teilhaben will, kann sich unter weiss@staatstheater-stuttgart.de melden.

Text: Rosalie Schneegaß
Weitere Infos auf der Website des Schauspiel Stuttgart.

Rosalie ist im Juni 2015 zur Redaktion gestoßen. Sie treibt sich gern in Theatern in ganz Deutschland herum und ist neben dem klassischen Schauspiel besonders an Projekten, die Sparten- und Genregrenzen verwischen, interessiert.

„Die Theaterlandschaft in Stuttgart ist großartig. Vom großen Drei-Sparten Staatstheater bis zu den kleinen Kunsttheatern – ich könnte jeden Tag ein anderes Stück ansehen. Die meisten Menschen gehen viel zu selten ins Theater. Dem möchte ich etwas entgegensetzen.“