Nackt durch die Berge

Literarische Kritik des „Zauberberg“ im Schauspiel Stuttgart

Warum muss am Ende immer einer nackt sein, frage ich mich. Ist es nur dann Theater, wenn mal wieder Tabugrenzen ausgetestet werden? Diese Postmoderne nervt mich mit ihrem verdrehten Unterhaltungsanspruch, ihrer Intermedialität und dem unbedingten Drang, das Publikum bei der Stange zu halten, dabei jedoch ihre Leidensfähigkeit bis aufs Äußerste zu strapazieren. Vor einigen Jahren habe ich in Stuttgart Nord einmal ein ganz modernes Stück gesehen: Eine Materialschlacht war das, in der am Ende alle Darsteller in Feinripp oder nichts dastanden und Pulver von der Decke rieselte, das auf ihren schweißüberströmten Körpern zu schäumen begann. Ich habe an sich nichts gegen Eklig, aber ich verstehe es meist nicht und Nacktszenen im Theater zielen meist darauf ab, dem Zuschauer Leid zu bereiten und ihn auf seine „Kunst(/Trink)festigkeit“ zu prüfen.

Zauberberg_Conny MirbachHeute sehe ich den „Zauberberg“ im Schauspiel Stuttgart, eine Adaption des gleichnamigen Bildungsromans von Thomas Mann, und ich bin enttäuscht, dass auch dieser Hauptdarsteller, Paul Grill, der den Hans Castorp verkörpert, schon bald, viel zu bald, nur noch in Strümpfen auf der Bühne steht. Der deutsche Mann und seine Socken, denke ich und kann mir den Blick auf die Uhr nicht verkneifen. Wie schade, habe ich das Stück doch bisher so genossen. Doch dann, ach wie seltsam, wird es entgegen aller Erwartungen – doch nicht schlecht! Im Gegenteil: das ist die beste Nacktszene, die ich seit langem gesehen habe. Wie er sich da windet und streckt und schreit, dass sein Körper rot anläuft. Er führt einen Dialog mit der wunderschönen Russin Clawdia Chauchat (Manja Kuhl), die er begehrt (sie ihn nicht) und da Madame sich heute weigert, Deutsch zu sprechen, übersetzt „Tous-les-deux“ (Marie Goyette), eine verrücktgewordene Französin, geflissentlich in ihre Muttersprache. „ICH LIEBE DICH!“, schreit Castorp – „Il t’aime“ lautet die mit verdrehten Augen überbrachte Übersetzung. Die Szene ist zum Brüllen.

Handlung ist nicht vordergründig im „Zauberberg“. „Hans Castorp reist aus Hamburg nach Davos, um seinen lungenkranken Vetter zu besuchen. Drei Wochen will er bleiben, im Sanatorium Berghof, hoch oben in den Schweizer Alpen. Doch schnell verliert er sich im Mikrokosmos dieser zeitenentrückten Welt. […] Sieben Jahre lang lebt er auf dem „Zauberberg“, bis der Donnerschlag des Ersten Weltkriegs die skurrile Gesellschaft in alle Winde zerstreut“, so das Programmheft. Sieben Jahre in zwei Stunden und schon zu Beginn verschwimmt die Wahrnehmung. „Was ist denn die Zeit, hä? Wir haben doch kein Zeitorgan“, meint irgendwann Frau Stöhr (Maja Beckmann), eine Hausfrau, die nicht nur lungenkrank, sondern auch ein wenig verrückt ist, mit dieser Aussage jedoch den Nagel auf den Kopf trifft. Der „Zauberberg“ ist vor allem eines: eine Traumreise, auf der die Grenzen zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten verwischt werden.

Es ist ein intelligentes Stück mit intellektuellem Anspruch. Über Krankheit wird philosophiert, über den Tod und über Krieg. Der italienische Humanist Settembrini (Wolfgang Michalek) und der Jesuit Leo Naphta (Michael Stiller) streiten auf einem Niveau und mit einer Ernsthaftigkeit, dass sie sich am Ende duellieren müssen. So heilig sind ihnen ihre Ideen. Für mich war das Hauptthema ein anderes. Ich glaube, der Zauberberg handelt von einer Flucht, oder vom Flüchten im Allgemeinen. Als Castorp nach Davos reist, entflieht er da dem „Fiebertraum Europa“ oder lässt er sich auf noch wahnwitzigere Illusionen ein? Einmal sagt jemand über einen Soldaten: „Er ist zu den Fahnen desertiert. Ja, das geht auch.“ Der Dienst im Militär ist hier ein Ausweg, wenn das echte Leben schlimmer ist, als jedes Kriegsspiel es sein könnte.

Als Unterstützer des Hans Castorp steht Joachim Ziemßen (Matti Krause), sein Vetter, den nicht die Last seiner Lungenkrankheit, sondern die große Abgeschiedenheit bedrückt. Er will fort aus dem Sanatorium, von Anfang an, und schließlich geht er, obwohl er eigentlich zu krank ist und Hofrat Behrens (Andreas Leupold) im davon abrät. „Ich verlier den Anschluss“, sagt er. Wenn Genesung bedeutet, das Leben nicht mehr genießen zu können, dann ist sie es auch nicht wert.

Mir gefällt dieses Stück, sehr sogar. Das Ensemble überzeugt; besonders Beckmann (die Hausfrau Stöhr) in der Irrsinnigkeit ihrer Rolle und Stiller, der den skeptischen Naphta spielt. Am schönsten finde ich, dass sie es mit dem Modernen nicht übertrieben haben. Nicht zu viel Verfremdungseffekt, ein wenig Kontinuität; man kann dem Stück in seinem Verlauf folgen, heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Und keine Menge an Nackten, die mit Schaum eingerieben auf der Bühne stehen. Im „Zauberberg“ steht das gesprochene Wort im Zentrum und es werden Witze auf Deutsch, Französisch und Italienisch gerissen. Gerade weil das Skript so gut ist, hat das Stück eine ganz besondere Qualität.

Zwei Dinge jedoch, Stuttgart, verstehe ich nicht: Hinten an der Seite sitzt ein alter Mann mit weißem Bart. Rolle und Schauspieler werden im Prospekt nicht genannt, was kein Wunder ist, denn dieser Charakter hat augenscheinlich keine Funktion. Und das Stück beendet ihr mit einem Luftballon – einem sehr, sehr großen Luftballon, der euch die halbe Bühne füllt. Aber was macht der da? Lasst diesen Blödsinn, denn das Stück ist auch so schon Kunst, ohne weiter darauf aufmerksam zu machen.

Und warum war Castorp nackt? Um sein Innerstes nach außen zu kehren. Um daran zu erinnern, dass der menschliche Körper das ehrlichste ist, das einer von sich preisgeben kann. Ich mag den „Zauberberg“ und ich würde ihn wieder sehen. Mehr davon!

Text: Merlin Krzemien
Bilder: Conny Mirbach