Der Götz von Berlichingen – Sturm und Drang auf der Götzenburg

Das Renommee der Burgfestspiele Jagsthausen ist die alljährliche Aufnahme des »Götz von Berlichingen«. Hierdurch erlangte das Jagsttal als Austragungsort bundesweite Popularität. Allerdings entpuppt sich ebenjenes Vorhaben stets von neuem als Kalamität. So ist es die Aufgabe des Regisseurs, das Publikum immer wieder aufs Neue zu überraschen und frische Akzente zu setzen.

Mit dem Engagement des arrivierten französischen Theaterregisseurs Jean-Claude Berutti ist den Initiatoren der Burgfestspiele ein wahrer Coup gelungen. Berutti beweist bereits bei der dramaturgischen Bearbeitung des Klassikers, bei dem er Goethes »Urgötz« mit dem Drama geschickt kombiniert, exzellentes Gespür. Hierbei fokussiert er sich auf diejenigen Handlungsstränge die auf der Bühne hervorragend funktionieren, Spannung aufbauen und somit die Spektatoren von Beginn an fesseln. Metaphorisch chiffriert er zudem, durch den Einsatz eines Bewegungschores, das europäische Volk und zeigt die Kongruenz zwischen den heterogenen Machtverhältnissen und Konflikten des Mittelalters und der Gegenwart, der alten Welt, auf. Die Figuren des Chores als Moloch, als entindividualisierte Masse Mensch, schemenhafte Antlitze durch graue Masken, puppenhafte Gestalten aus denen sich nach und nach die Hauptprotagonisten herauskristallisieren.

So tritt aus einer einheitlichen chorischen Stimme des Volkes – des gesichtslosen Menschen – das Individuum mit seinen persönlichen Idealen und Destinationen hervor. Gleichzeitig begleitet der Chor aktiv das Geschehen, lässt die Handlung voranschreiten, kämpft, protestiert, agitiert und schafft epische Bilder. Hervorzuheben ist das enorme Wagnis den Chor weitestgehend mit Laiendarstellern zu besetzen. Timing und Präzession obliegt somit nicht nur der Verantwortung der professionellen Akteure, sondern auch den passionierten Amateuren – dieses Experiment gelingt kongenial.

Cineastische Effekte werden durch exakte Szenenwechsel erzeugt und lassen eine akribische Dynamik entstehen. Dem Zuschauer stockt der Atem während der turbulenten Anfangsphase, die ganz im Sinne des Sturm und Drangs verläuft und schließlich in der lentementen Stagnation endet. Dies harmonisiert einzigartig mit der Figur des Götzen und skizziert dessen enorme Fallhöhe und dessen Niedergang im Stückverlauf. Beschreibend hierfür, dass ihm zuerst die rechte Hand, seine Freiheit, die Güter und letztendlich sein guter Name genommen werden. Untermauert wird diese Regieleistung durch das äußerst gelungene Bühnenbild von Rudy Sabounghi, welches aus diversen erhobenen, großflächigen und bespielbaren Podesten auf Rollen besteht. So ist es möglich, dass der Bewegungschor die Geschichte mitsamt seinen Protagonisten durch das zweistündige Spektakel trägt und stets neue Handlungsorte ermöglicht. So wird das Embarras der fehlenden aristotelischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung eliminiert und gestattet eine Integrierung von 50 vorgesehenen Spielorten, innerhalb der feststehenden Kulisse der Götzenburg. Herrlich wie die Bühnenelemente, Nähe und Distanz im Dialog stimulieren, während die Akteure verharren und ihre Mimen sprechen lassen. Volker Deutschmann kreiert in gewohnter Manier passende Kostüme, die eine Symbiose aus der frühen Moderne und historisch-usueller Wämse, Rüstungen und Roben bilden. Somit wird auch Beruttis Intention, eines aktuellen europäischen Gegenwartsbezugs, fundamentiert.

Das Berutti ein großartiger Regisseur ist, zeigt sich letztlich in der grandiosen Ensembleleistung. Vom ambitionierten Laienspieler bis hin zu den Hauptcharakteren ist eine immense Spielfreude und zwischenmenschliche Harmonie zu konstatieren. Dennoch ragen einige Darsteller besonders heraus: Christopher Krieg verkörpert temperamentvoll und leidenschaftlich die Titelfigur des Dramas. Gewitzt wie der Fuchs Reinecke – der ebenfalls von Goethes Feder entsprungen ist – mit charismatisch funkelnden Augen und akzentuierter Sprechweise tritt er seinem Widersacher und einstmaligen Kompagnon Weislingen entgegen. Die Fallhöhe und Genese des freiheitsliebenden Raubritters wird zudem berührend von Krieg dargestellt. Mathieu Carrière besticht durch seine antagonistische Interpretation der Rolle des Weislingens. Schlängelnde Bewegungen gepaart mit melancholischen, resignierten Auftreten und einer permanenten Ambivalenz, die einen schmalen Grat zwischen Gebrechlichkeit und Wahnsinn beschreitet.

Seine Muse Adelheid von Walldorf (Andrea Lüdke) betört mit erotischer Anziehungskraft und rhetorischem Geschick, sirenengleich, Weislingens Adjutanten Franz – emotional und bewegend dargeboten von Charles Morillon – und die anwesenden Spektatoren. Stephan Koch, der bereits in »Der Name der Rose« hervorgestochen ist, knüpft nahtlos an diese Leistung an. Er mimt den Selbitz mit genuinen Pathos als treuen Kameraden und den Bauernhauptmann Metzler. Blutverschmiert, mit hassverzerrter Grimasse, gleich eines Berserkers, erklimmt dieser den Hügel des Schlachtfeldes, währenddessen er das Eheweib eines Adligen traktiert. Diese Szene offenbart die Schattenseiten des gewalttätigen Bauernaufstandes und lässt Parallelen zu der von Marx propagierten Weltrevolution zu. Gleichsam muss man sich die philosophische Frage stellen, zu welchen Zweck die Revolte erfolgen darf und welche Opfer ihre Legitimation haben? Durch Kochs Leistung avanciert sich dieser Moment zu einem der ausdrucksstärksten Regiemomente in Beruttis Inszenierung.

Der Götz von BerlichingenDurch sphärische Audioeinspielungen werden Räume erzeugt und der Zuschauer erlebt, als Soldat des Götzen, die Belagerung der Burg – »Er aber, sag´s ihm, er kann mich im Arsch lecken.«

Am Ende dieser packenden und kurzweiligen Darbietung verglüht der Götz in sich selbst und das Mittelmaß kommt an die Macht – aufbrausender Jubel, zufriedene Schauspieler und eine Teamleistung die ihresgleichen sucht.

Text: Philipp Wolpert und Tobias Frühauf

Bilder: Burgfestspiele Jagsthausen