Achtzehn Einhundertneun-Paradies

3D-Theater? Üblich. 4D-Theater? Auch davon hat man schon gehört; das Publikum wird nass – beispielsweise. Was das Citizen.KANE.Kollektiv im Theaterhaus auf die Bühne bringt, lässt sich nicht in solch einer Kategorie zusammenfassen. „Achtzehn Einhundertneun-Paradies“ tanzt aus der Reihe, längst ist es mehrdimensionaler, als dass es sich kategorisieren ließe.

Im Blickpunkt: die Radikalisierung einer Jugendlichen. Geschildert aus dem Blickwinkel ebenjener Jugendlichen, Sara. Bla, bla, wie oft denn noch, könnte man meinen. „Doch nicht bei uns“, lautet oft die Devise der westlichen Gesellschaft, einer überforderten Gesellschaft. Einfache Antworten scheinen die Lösung, „raus mit denen“ oder „was geht uns der Osten an“. Mehr als uns lieb ist, wie der Titel verrät – man rufe sich ins Gedächtnis: 18109 Rostock-Lichtenhagen, 1992, pogromartige Ausschreitungen gegen Asylbewerber. Radikalisierung – auch und vor allem nach dem II. Weltkrieg – geht uns mehr an, als uns lieb ist.
Das Perfide: Sara hat Recht. Sara hat allen Grund dazu, sich vor dieser entgleisten, westlichen Welt zu ekeln. Etwas im Inneren gibt ihr zu verstehen: „Keine Bomben, keine Düsenjets…langweilig. Du weißt doch: Je schwerer der Weg, desto schöner das Paradies. Mach weiter.“

Weitermachen, weitermachen womit? Damit, beim Frühstück plötzlich weder Brezeln noch Brötchen zu essen, sondern lieber zu gesalzenen Sonnenblumenkernen zu greifen? Damit, den Kopf sorgfältig mit einem zarten Tuch zu verschönern? Damit, Bikini gegen Burkini auszutauschen, Madonna gegen den Koran? Mach weiter. Mach. Weiter.

Du bist mehr als Beobachter, du bist Beteiligter. Das beginnt schon damit, dass sich die Sitzplätze mitten im Bühnenraum verteilen, auf Kartons. Transparente Raumteiler, die von der Decke hängen, deuten ein Apartment an, mit Wohnzimmer, Badezimmer und Einzelzimmern. Von Anfang an fehlt dir im Publikum der Schutzraum „Publikum“, die bestuhlte Tribühne als Rückzugsort. Hilflos dieser Wortgewalt ausgeliefert, die dich auf Saras Seite zieht. Und das schleichend.

einhundertneun-paradis-2Beim gemeinsamen Brezelfrühstück an der langen Tafel ergibt sich eine weitere Dimension: Sara filmt ihre Eltern mit einem Tablet, diese Live-Mitschnitte werden an Leinwänden abseits der Geschehnisse übertragen. Multimediale Einsätze wie diese gibt es einige, immer im fiesesten Moment. Warum filmt dieses Mädchen banale Alltagsszenen? Einen Kuss zum Beispiel, einen scheinbar harmlosen Guten-Morgen-Kuss ihrer Eltern. Widerlich, wie die beiden, Andrea und Jürgen, zerkaute Brezelreste vermengt mit Spuckefäden austauschen, mit ihren Fingern im Mund des jeweils Anderen stochern. Nichts weiter als ein Kuss. Widerlich. Nichts weiter als ein Kuss? „Verliebtsein ist ein Zeichen für mangelndes Selbstbewusstsein.“

Saras Welt ist chaotisch, ihre Eltern schweigen wo es Redebedarf gibt, tischen nur die angenehmen Themen auf. Und sie haben Angst. Haben Angst, ihre Tochter an die in schwarz gehüllten Jünger zu verlieren, die Sara in ihren Bann ziehen. Die mehr maschinell agieren als mit gesundem Menschenverstand. Andrea und Jürgen sind wohl die typischen Eltern, wenn es darum geht, sich ihrem Kind zu nähern, das vollkommen abblockt: Sie sind hilflos. Versuchen Saras Sinneswandel als pubertäre Phase abzutun – und erkennen zu spät den Ernst der Lage.

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Nämlich dann, als Sara schon mit ihrer Zukunft einen festen Bund eingegangen ist, sie hat es ihren Eltern jetzt gesagt, wie sie ihrer YoutubeCommunity stolz erzählt. „Wenn auch ihr vorhabt, es euren Eltern zu erzählen“, dann macht euch darauf gefasst, dass ihr die einsamsten Menschen der Welt sein werdet. Aber es fühlt sich gut an, natürlich. „Lieb euch, salaaaam.“ Erschreckend nah, und vor allem erschreckend lebensnah – verständlich, oder? Für jemanden, der (noch) nicht gefestigt ist im echten Leben?

„Achtzehn Einhundertneun-Paradies“ hinterlässt sein Zuschauer entblößt. Man beginnt, Saras perverse Gedanken zu verstehen, steht gar auf ihrer Seite – Recht haben sie, die Gestalten in schwarz, bye, bye ihr elendigen Spießer, die ihr alle reines Chaos im Innern seid! „In mir ist Ruhe.“ Bleibt nur zu hoffen, dass jeder der Zuschauer sich selbst ertappt, seine Anfälligkeit durchleuchtet und damit einmal mehr in den freiheitlichen Werten bestärkt wird.

Text: Leah Wewoda

Bilder:  Daniela Wolf / Citizen.KANE.Kollektiv