Kammerballette Stuttgart – Tanz auf der Theaterbühne?

Das Stuttgarter Ballett tanzt im Schauspielhaus? Ungewöhnlich, aber passend. Vor allem für einen Ballettabend wie „Kammerballette“ schafft das Schauspielhaus die passende Atmosphäre. Hier kann sich die Tanzform Ballett von einer anderen, neuen Seite zeigen; fernab von Schwanensee und Romeo und Julia. Drei zeitgenössische Stücke füllen den Abend: Kammerballett//Arena//Neurons. Drei Stücke, die sich kontrastreich gegenüberstehen.

Eines aber haben sie gemeinsam: Sie schätzen jedes Körperteil, von Kopf bis Fuß, sogar den Zehen widmen sie volle Aufmerksamkeit. Wer genau hinsieht, entdeckt in allen drei Choreographien ein wiederkehrendes Motiv: flex und pointe, die Zehen anziehen und strecken, in ungewöhnlichen Kombinationen. „Flex//pointe“ lässt sich auf den gesamten Abend übertragen: Für Spannung ebenso wie für Entspannung sorgen die Stücke in Gesamtheit.

Ein stechend weißer Lichtkegel erfüllt die Bühne und leitet „Kammerballett“ ein, 1995 kreiert von Hans van Manen.  Beistelltische sind Teil der Choreographie, sie werden mal elegant positioniert, mal quietschend über den Boden gezerrt. So kostet jeder der Tänzer seinen persönlichen Auftritt mit Tisch aus und verleiht ihm eine eigene Bedeutung. Einprägsam ist Alicia Amatriain, die sich trotzig präsentiert, auch in ihrem anschließenden Solo behält sie den Trotz bei. Die acht Tänzer überzeugen mit unschlagbarer Synchronität in den Gruppenformationen, welche in Kombination mit den unifarbenen Bodys im Gedächtnis bleiben.

Den Kontrast dazu bietet „Neurons“ – gedimmtes Licht wie an einem grauen Tag, an dem sich plötzlich die Sonne ihren Weg durch die Wolkendecke bahnt. Die Tänzer in grauer Kostümierung stehen für Neuronen, engl. neurons, angelehnt an die im Gehirn fließenden (tanzenden) Ströme. Katarzyna Kozielska, selbst Halbsolistin am Stuttgarter Ballett, choreografierte anhand des Ausdruckes ihrer eigenen gemessenen Gehirnströme. Spannend ist der mit winzigen Scheinwerfern bestückte Lichtring, der zu Anfang und zu Ende der Kreation auf die Bühne herabgelassen wird und zunächst ein konfuses Bild schafft. Konfus und zugleich glanzvoll wie eine geheimnisvolle Zirkusmanege.

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Arena“ von Glen Tetley passt insofern in den Abend, als dass – wie in den anderen beiden Kompositionen auch – besondere Requisiten gebraucht werden. Aufeinandergestapelte Stühle stehen im Zentrum des Geschehens, mal vertikal, mal horizontal positioniert. Die sechs Tänzer, alles Männer, sind blass geschminkt, rote Farbe an den Händen und unter den Armen. Blut? Sie wirken unheimlich, erinnern an Wachsfiguren, die wie in einem Videospiel ferngesteuert sind. Allen voran Louis Stiens, der Bewegung und Klang hinreißend verschmelzen lässt. Auch die Klänge des Synthesizers erinnern an Sequenzen eines Videospiels. Dass sich das Stück laut Tetley an einen Stierkampf in einer Arena anlehnt – daher der Titel – kann man nur nachvollziehen, wenn man darüber informiert ist. Ein ungewohnter Umgang mit Klängen und Bewegungen, durchaus reizvoll.

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„Kammerballette“ beweist einmal mehr, dass die Stuttgarter Kompagnie facettenreich tanzt: John Crankos Klassiker, die sie auszeichnen, beherrscht sie ebenso wie zeitgenössische Ballette. Darüber hinaus zeugt die Wiederaufnahme von exzellentem Gespür für die richtige Balance zwischen modernem Tanz und Klassikern auf dem Spielplan.

Sinnlich, provokant und eigenwillig – ein Ballettabend, der alle Gemüter bedient und überzeugt, solange man sich von Vornherein darüber im Klaren ist: rosa Tutus bleiben heute im Kostümfundus.

 

Text: Leah Wewoda

Bildrechte: Stuttgarter Ballett