After Theatre Tea: Karamasow

Gina und Philipp sitzen um circa elf Uhr nachts auf einer Bank im Schlosspark vor dem Schauspiel Stuttgart. Der Wind weht, der Park lebt, überall sitzen allein oder in Gruppen Menschen, schweigen oder unterhalten sich, genießen Alkohol, Tabak und die laue Sommernacht. Der Springbrunnen plätschert leise. Der Wind bringt DJ-Musik mit. Wir reden.

PHILIPP So. Hier. Da sind wir. Achtung. Und los geht’s. Bei mir gibt’s jetzt zum After Theatre Tea ein Wulle.

GINA Bei mir gibt’s Apfel-Holunderblütenschorle. Ich muss noch fahren.

PHILIPP Ah ja. Fahren. Blöd, sowas.

GINA Wobei Autobahnfahren Spaß macht.

karamasow6PHILIPP Vielleicht werde ich das eines Tages auch noch erleben. Ähm. Wir haben heute Abend Karamasow gesehen, ein Theaterstück nach dem Roman Die Brüder Karamasow von Fjodor M. Dostojewski. Ich hab den Roman gelesen. Du nicht. Was vielleicht auch gut ist, weil wir damit ziemlich unterschiedlich Sichtweisen haben.

GINA Durchaus.

PHILIPP Bei mir ist da dieses Zitat hängen geblieben. „Das Glück – wo ist es?“ Ich glaube, Lisas Mutter sagt das. Für mich war das eine Art Schlüsselsatz. Alle Protagonisten suchen das Glück, suchen hektisch und immer hektischer, und je mehr sie finden wollen, desto weniger finden sie. Als würde dieser wilde Wunsch nach Glück das Glück von Anfang an verhindern. So bleibt nur eine riesige Überspanntheit, die immer schlimmer wird.

GINA Eine Überspanntheit, die dazu führt, dass eigentlich alle ständig ins Schreien verfallen. Lisa und ihre Mutter und – naja, eigentlich schreien sie alle. Überhaupt spielen alle Schauspieler mit extrem großen Einsatz.

PHILIPP Auf jeden Fall! Und ja, es schreien alle. Aber vor allem bei Lisa und ihre Mutter kann ich gut vorstellen, wie sie sich den ganzen Tag gegenseitig terrorisieren. Schrei doch nicht, schreit die Mutter. Sie und ihre Tochter, sie hassen sich und lieben sich auf ihre verkorkste Weise, aber sie können weder allein noch zusammen existieren und machen sich ihr Leben in all ihrem Reichtum zur Hölle.

GINA Sie sind eben gelangweilt und völlig unzufrieden, wissen nichts mit sich anzufangen, haben keine wirkliche Aufgabe, nach der vor allem die Mutter lechzt – und deswegen verfallen sie ins Destruktive. Vor allem Lisa will sozusagen Grenzen austesten. Hauptsache, irgendwas passiert. Auch wenn es auch abstoßend und verdorben ist. Häuser anzünden. Jemand umbringen. Gequält werden.

PHILIPP Lisa bringt wie viele Dostojewki-Figuren aus sich heraus überhaupt nichts Positives zustande, nur Hass und Ablehnung von allem und jeden. Und unerfüllbare Fantasien: von Gewalt, von Zerstörung, dann wieder von romantischem Glück, das ihre eigene Lebenswirklichkeit überhaupt nicht erwarten lässt…

karamasow1Schauspieler laufen vorbei.

PHILIPP Schau mal, Schauspieler laufen vorbei.

GINA Die haben sich aber schnell umgezogen. #aftershowparty. TheaterNetz hat doch einen Twitter-Account, oder? Aber ich bin nicht auf Twitter.

PHILIPP Ich auch nicht. Blöd, sowas.

GINA Aber ich hashtage privat sehr gerne. Nur eben bei Whatsapp. Oder im echten Leben.

PHILIPP Ich auch! Dabei hab ich noch nie einen echten Hashtag benutzt… komisch eigentlich.

Nachdenklich Stille nimmt ungefragt zwischen Gina und Philipp Platz und stellt Philipps Bier beiseite.

GINA entfernt die Stille höflich und gewaltlos. Kunstblut. Schon wieder Kunstblut. Ich habe ein unheimlich schwieriges Verhältnis zu Kunstblut im Theater. Es wirkt zu schnell einfach überdramatisch. Und oft braucht man es ja gar nicht! Weil die Schauspielleistungen so gut sind, dass man es sich einfach vorstellen kann. Ohne Kunstblut. In dem Stück ging es sogar einigermaßen, aber einmal dachte so: Leute, es sind 10 Minuten vorbei und wir haben schon dreimal mit Blut rumgespritzt!

karamasow3PHILIPP Ja… da waren der Hund und der Biss in den Finger, bei dem sich beide mit Blut eingeschmiert haben. (Beim Händeschütteln ergreift Iljuscha die Hand Aljoshas, der ihm eigentlich helfen wollte, und beißt ihn heftig in den Finger, Anm.) Immerhin ging es nicht mit so wahnsinnig viel Blut weiter. Es hätte deutlich schlimmer kommen können bei den ganzen Toten und Morden…

GINA Richtig. Ganz anders damals beim Kalten Herz, da haben sie sich in den Blutlachen gewälzt, das blieb uns heute erspart…

PHILIPP Ich fand den Einsatz eigentlich ziemlich dosiert, sie haben ja in dieser Inszenierung fast komplett auf Spezialeffekte verzichtet: nur Kunstblut und die Nebelmaschine. Und dadurch wirkte das Blut umso stärker, aber nicht übertrieben. Zumal ja viel gemordet wird. Am Anfang der Hund mit dem Eisennagel im Brötchen, später der Mensch. Das heißt, die dunklen Fantasien werden auch durchaus wahr. Übrigens finde ich es sehr interessant, dass sie sich noch getraut haben, circa eine halbe Stunde vor Schluss diesen Mord reinzuquetschen!

karamasow5GINA Das mit dem Mord habe ich auch nicht ganz verstanden, wer wurde da eigentlich umgebracht?!

PHILIPP Umgebracht wurde der Vater der drei Brüder, der alte Karamasow, der im ganzen Stück nie vorkam, und er wurde entweder von seinem Sohn ermordet, der auch nie vorkam, oder von einem Lakai, der natürlich auch nicht vorkam. Ich glaube, wer das Buch nicht gelesen hat, hat da wenig bis gar nichts verstanden.

GINA Stimmt. Kann es sein, dass der Vater nicht so cool war?

PHILIPP Ne, war er nicht. Gar nicht. Er war ein abstoßender reicher alter Sack, der nichts tat als junge Frauen ausnutzen, saufen und seine Umgebung tyrannisieren. Wobei das vermutlich nur passiert ist, weil es selber eine leidende Seele ist und sich ungeliebt fühlt und so weiter. Wieder eine sehr widersprüchliche Figur, genau wie alle Karamasows…

GINA Das hätte man wenigstens ein bisschen reinbringen können! Einfach, damit Leute das verstehen könnten. Es fehlen wichtige Figuren. Dimitri zum Beispiel, wobei man von dem am Anfang ja noch ein bisschen was mitgekriegt hat. Aber Iwan. Plötzlich ist da dieser Iwan! Wer das ist und ob er vielleicht was mit Lisa hat und welche Rolle er spielt– das wurde komplett offen gelassen!

karamasow4PHILIPP Ja, das ist alles problematisch. Diese Inszenierung hatte halt ein großes Problem: Weil sie vermutlich aus Zeitgründen einen Großteil des Stoffes chirurgisch entfernen mussten, gibt es eben diese vielen offenen Enden. Wie durchtrennte Adern, wenn man ein Bein amputiert: Es haben wesentliche Anteile gefehlt, und dieses Problem konnten sie einfach nicht lösen. Da war ein für alle mal was kaputt.

GINA Vielleicht hätte man die Figuren dann lieber ganz totgeschwiegen…

PHILIPP Wobei dann halt der Mord nicht mehr funktioniert und wieder ein wesentlicher Teil gefehlt hätte. Wirklich schwierig, ich wäre nicht gern an der Stelle des Dramaturgen gewesen. Oder wer auch immer den Text so radikal bearbeiten musste. Sie konnten dieses Problem, dass an diesem Roman letztendlich alles zusammenhängt, dass alles wichtig ist und alles etwas bedeutet, nicht lösen. Sie konnten nur drumherumeiern. Und deswegen diese vielen bleibenden Fragezeichen. Ich finde es deswegen auch seltsam, dass sie den Mord noch reingebracht haben, weil ja mehr als die Hälfte der Figuren und auch die verschiedenen möglichen Mordmotive abwesend waren!

GINA Unterm Strich ist das, wozu dieses Stück mich wirklich anregt: den Roman zu lesen! Die Brüder Karamasow. Da hab ich wirklich Lust drauf bekommen.

PHILIPP Großartig, dann hat der Abend schon viel gebracht! Wirklich, ein wunderbares Buch…

GINA Pädagogisches Theater! Prädikat besonders wertvoll, regt zum Lesen an!

PHILIPP Das ebook gibt’s übrigens gratis bei Amazon als urheberrechtsfreie Ausgabe. (Erstausgabe: 1880, Anm.) Ende des Werbeblocks! Ein anderes Problem des Abends war, denke ich, der alte Widerspruch zwischen bühnenwirksamer Komik und gedanklicher Tiefe. Wenn man es mal kompliziert ausdrücken will. Das heißt, man kann einerseits wie heute auf die Lacher setzen, was Spaß macht. Andererseits verwässert das den Inhalt.

GJG Deswegen: Buch lesen!

PHILIPP Ja, genau! – Hm, was fällt uns noch ein? … die Erinnerungen des Starez zum Beispiel, dieser Heilige und geistiger Vater von Aljosha! Er stirbt und predigt und erzählte episodenhaft aus seinem Leben, von seinem verstorbenen Bruder und seinen eigenen Sünden… und vom Essen!

GINA Das mit dem Bruder fand ich sinnvoll. Man merkt, der Mann ist alt und Erinnerungen dringen aus ihm heraus. Aber das Essen hat mich gestört! Da hätten sie zehn Minuten sparen können und nicht so extrem ausweiten. Denn es ist weder poetisch noch bringt es irgendwie die Story voran. Und sowas kann man kürzen…

karamasow7PHILIPP Ich persönlich fand das nett. Einfach nur nett. Nach dieser ganzen Geistigkeit und Heiligkeit und den Spekulationen über die Unsterblichkeit der Seele schaut der Mann zurück auf sein Leben, und woran denkt er am Schluss: Essen! Das ist ein seltsamer Widerspruch, einerseits geht es kurz davor noch um ewiges Leben, um tätige Liebe und Gott und solche Sachen. Andererseits werden diese metaphysischen Ansätze gleich wieder unterlaufen, wenn durch die Sache mit dem Essen durchschimmert: Hey, am Ende geht es doch nur um ein paar elementare Dinge: gutes Essen, guter Wein, gute Erinnerungen. So eine Art bescheidener Hedonismus, der nicht nach den extremen Erfahrungen strebt, sondern nach diesen kleinen Dingen, zu denen man sagen könnte: Ihr macht das Leben lebenswert!

GINA Es steckt also eine Art Tragikomik darin. Dass der große Kirchenmann nicht von seinem Gott spricht, nicht davon, dass er jetzt zu Gott geht und so weiter, sondern vom Essen, Kindheitserinnerungen, und dann tschüs. Jetzt sterbe ich.

PHILIPP Sterben. Ja. Auch Thema des Abends: der ermordete Hund, der ermordete Vater, der alte Starez, der kleine Junge. Alle tot. Einerseits ist es ja immer gleich, das Sterben, andererseits total unterschiedlich, je nach Situation und Person und Ursache. Die Hundekunststücke am Totenbett waren furchtbar!

GINA Ja, die waren auf so eine extrem kindische Art witzig!

PHILIPP Wobei das natürlich gewollt war, dieser Kontrast: Da stirbt ein Junge, und sein Freund hat keine bessere Idee, als den Hund Kunststückchen aufführen zu lassen….

GINA Lässt ihn Wurstscheibchen fressen, furchtbar… da hustet der Sterbende Blut. Da dachte ich mir auch: Komm, der hustet so überzeugend, muss er da wieder unbedingt das Kunstblut ausspucken?

PHILIPP Hm… ich fand, sie haben so wenig Effekte gebracht, da kann das simple Kunstblut schon mal angebracht sein…

GINA Vielleicht ist das nur so ne fixe Idee von mir, aber ich hab ne schwierige, ganz schwierige Beziehung zum Kunstblut…

PHILIPP Quälen Sie mich! Ruft Lisa ihrem Aljosha einmal zu. Shades of Grey lässt grüßen, oder?

GINA Ja! Das dachte ich auch, das Mädel ist vierzehn und dann kommt sowas… also für mich hat sie durchaus diese SM-Gedankenwelt aufgegriffen… und auch das zeigt wieder dieses Gelangweilte und Destruktive.

PHILIPP Diese Fantasien scheinen ja grade unter Hausfrauen und Mädchen aus behüteten Verhältnissen zu grassieren. So gesehen passt es perfekt zu Lisa. Sie fragt Aljosha einmal, was er denn anziehen will, wenn er aus dem Kloster ausgetreten ist!

GINA Ja, unglaublich! Da merkt man, wie jung sie eigentlich noch ist, weil sie so ziemlich die letzte Frage stellt, die ein vernünftiger Mensch stellen würde: nicht, was Gott dazu sagt oder wie es jetzt weitergehen, was er jetzt anfangen, sondern was er anziehen will!

PHILIPP Davor nennt Aljosha sie eine Märtyrerin, weil sie von Kranken spricht… da dachte ich so: Das muss doch eine Projektion sein. Er hätte vielleicht gerne eine Märtyrerin, aber Lisa ist sicher keine.

GINA Sie hat höchstens so eine kindische Anwandlung von Mitleid, aber aktiv würde sie garantiert nicht werden… das unterstreicht wieder dieses Infantile, dass der Figur anhaftet. Ist dir eigentlich klar geworden, warum sie kurz vor Schluss nochmal ihre Meinung geändert hat? (Lisa eröffnet Aljosha kurz vor Schluss, dass sie ihn doch nicht heiraten kann, nachdem sie ihre Meinung darüber schon einige Male geändert hat, Anm.)

PHILIPP Ne, nicht wirklich. Aber ich denke, es ist auch nur eingeschränkt sinnvoll, nach den Gründen für ihr Handeln zu fragen, das bis zu einem gewissen Grad sehr irrational und unberechenbar ist. Man weiß ja auch nie, ob sie das, was sie sagt, ernst meint oder nicht, manchmal glaube ich, die Figur weiß es selber nicht.

GINA Okay. Abschlussfrage: Wie würdest du Karamasow in einem Satz zusammenfassen?

PHILIPP Hm. Ungefähr so: Karamasow erzählt eine starke Geschichte mit großen Charakteren, die um die alten Fragen nach Schuld, Gott, Leben, Liebe und Tod kreist. Die Inszenierung in ihrer Kargheit räumt ihrer größten Stärke – der bemerkenswerte Schauspielerleistung – genügend Platz ein, aber ein paar Slapstick-Momente zu viel verwässern den Inhalt stellenweise. Hups, das waren jetzt zwei Sätze. Deine Zusammenfassung?

GINA „Karamasow“ wird von den hervorragenden Darstellern dominiert, ist eine Hymne auf die Schauspielkunst, vereint gelungen Tragik und Komik – und doch wären einige Passagen lieber in Papierform geblieben: Die Buchvorlage will man sich danach auf jeden Fall genauer anzuschauen.

PHILIPP Amen.

Philipp Neudert und Gina-Julia Westenberger
Bilder: Arwed Messmer lux fotografen