After Theatre Talk: Rosmersholm

Wir sitzen im warmen Hinterhoff des Studio Theaters Stuttgart. Gerade haben wir das Stück Rosmersholm gesehen, geschrieben von Henrik Ibsen, inszeniert von Christian Fries. Der Verkehr ist zu hören, aber nicht zu sehen. Blätter rauschen, es wird Abend. Zu trinken gibt es: nichts. Denn es ist uns gelungen, die Theke völlig zu übersehen – was sicher selten passiert. 

GINA-JULIA Aber ich habe noch Wasser in meiner Flasche! Und ich kann dir Kekse anbieten.

PHILIPP Kekse?

GINA-JULIA Ja, Kekse. Sie sind klein und es sind nur wenige. Aber es sind Kekse. Für jeden drei.

PHILIPP Geschrieben: Kex. Interessant. Schmecken aber wirklich gut. Danke. Also, wir haben heute Abend ein Beziehungsdrama gesehen, das verwoben war mit politischen Konflikten: zwischen einer eher linken, progressiven, und einer eher rechten, konservativen Gruppe.

GINA-JULIA Es hat vermutlich auch mit Zeitgeschichte tun. Das Stück stammt ja aus aus dem Ende des 19. Jahrhunderts – warte eine Sekunde – von 1886.

PHILIPP Es gibt da zwei Zeitungen, die jeweils einer der politischen Lager zugeordnet sind. Am Anfang soll die Hauptfigur, der grüblerische Ex-Pfarrer Rosmer [Charles Toulouse] Redakteur des konservativen Blattes werden, das sein Freund, Rektor Kroll [Jan Uplegger] gekauft hat. Aber das will er dann nicht. Weil er sich eigentlich der eher linken und progressiven Richtung zuordnet.

GINA-JULIA Auch angeregt und ermutigt durch Rebekka [Astrid Kohlhoff], die als Gesellschafterin seiner Frau Beate [Ludmilla Euler] nach Rosmersholm kam, und nach deren Selbstmord mit ihm zusammenlebt. Ich denke, dass Rosmer sich das alles leichter vorgestellt hat mit der Politik: sich zu outen und dann auch mit den Folgen zu leben…

PHILIPP Und beide politischen Lager wollen ihn ja vor allem als Pfarrer für sich gewinnen, als Aushängeschild: Seht her, ein Musterchrist schließt sich unserer Bewegung an!

GINA-JULIA Wobei das mit dem Musterchrist ja gar nicht stimmt: Rosmers Glaube ist erschüttert, Pfarrer ist er auch nicht mehr, und er lebt mir Rebekka zusammen…

PHILIPP …aber nur scheinbar in einer Art wilden Ehe. Das Publikum wird hier ein wenig an der Nase herumgeführt…

GINA-JULIA … oder mit den eigenen Vorurteilen konfroniert…

PHILIPP … und es werden absichtlich widersprüchliche Hinweise gestreut; ich erinnere mich an Rebekkas lange nackte Beine, die sie an die Wand legt und die Rosmer küsst, was nun wieder nicht für eine ganz normale Freundschaft spricht…

GINA-JULIA Er bittet Sie ja auch, sie zu heiraten.

PHILIPP Die Beziehung schwankt ständig hin und her zwischen Freundschaft und Liebe und der Furcht vor allzu großer Nähe bei gleichzeitiger Sehnsucht danach. Rebekka will gegen Ende ja auch abreisen, um dem zu entkommen…

GINA-JULIA Doch es gelingt Rosmer, sie zu einem gemeinsamen Selbstmord zu bewegen: als Beweis ihrer Liebe zu ihm.

PHILIPP Es gibt da eine schöne Stelle, an der Rosmer sinngemäß sagt, er habe seinen Glauben an ihre Liebe verloren, Rebekka müsse Beweise liefern. Ein heftiger Widerspruch – zwischen Beweisen und Glaube – den nur der Tod auflösen kann, um es einmal wuchtig zu formulieren…

GINA-JULIA Eigentlich ein schwerer Stoff – die Inszenierung schafft es, diesen Ernst mit witzigen Passagen aufzulockern, ohne dass es unpassend wirkt.

PHILIPP Ja, da wird zum Beispiel mal ein Kind geboren, das von einer Lampe dargestellt wird…

GINA-JULIA Ja, wahnsinnig witzig, wahnsinnig gut gemacht! So etwas verhindert, dass das Stück irgendwelche Längen entwickelt; ich habe mich nie gelangweilt oder mir gedacht, meine Güte, das hätte man jetzt auch streichen können…

PHILIPP Es war kurzweilig. Obwohl es ja eigentlich recht lang war mit ungefähr zwei Stunden…

GINA-JULIA Nun haben wir schon über Rebekka gesprochen, die scheinbar verruchte, liederliche – liederlich, auch so ein schönes Wort! – eigentlich verzweifelte Verführerin, die nur in Rot auftritt…

PHILIPP Im Rot der Liebe oder des Sozialismus? Oder beides?

GINA-JULIA …während Rosmer eher der introvertierte, skeptische, nachdenkliche Typ ist…

PHILIPP … der als letzter lebender Nachkomme seines altehrwürdigen Geschlechts nicht gerade im Einklang mit seiner konservativen Herkunft lebt. Weder politisch noch religiös noch privat noch moralisch: Die Rosmers auf Rosmersholm, sie waren einmal die Gallionsfiguren dieser bürgerlichen Gesellschaft, perfekte Beispiele dafür, wie sich die Dinge gehören. Aber jetzt scheint alles abzusterben, zu verfallen. Der letzte lebende Nachkomme fällt vom Glauben ab und dann will er noch diejenige heiraten, die seine Ehefrau in den Selbstmord getrieben hat…

GINA-JULIA Und mit ihm wird das Geschlecht aussterben. Ich finde, dadurch wird es aber auch zu einer total schönen Kulisse für so eine Geschichte, man stellt sich ein altes Landgut vor, mit dunklen Gängen, und die Ahnen, die über allem schweben, was Rosmer ja auch sichtlich bedrückt… er wird mit tiefen Augenringen dargestellt, wirkt total ausgehöhlt… Ganz im Gegensatz dazu, dass er, wie er sagt, Licht und Freude in der Welt verbreiten will…

PHILIPP Ein Anliegen, das er im Lauf des Stück jedoch aufgibt; er resigniert vollkommen, er kehrt zu den alten konservativen Freunden zurück, er geht in den Selbstmord…

GINA-JULIA Er knickt ein.

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PHILIPP Alles läuft auf ein besonders heiteres Schlussbild hinaus: Ein dunkles Zimmer. Leere Bierflaschen. Ein Mann, der allein am Tisch den Kopf hängen lässt, während sich draußen zwei Menschen ertränken. Das hat mir gefallen. Es bleibt nichts von den guten Absichten übrig, aber auch das Tradierte kann nicht bewahrt werden und wird zerstört. Ein sehr düsterer Blick in die Zukunft. Fast wirkt es, als haben Ibsen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft längst aufgegeben – genau wie sein Titelheld…

GINA-JULIA Nun, das Stück entstand in seiner späteren Lebenszeit – ich habe das Gefühl, bei vielen Autoren wird der Ton in dieser Phase dunkler, resignierter…

Bremsen quietschen, Autos hupen und fahren doch weiter; ein alter Mann streckt den Kopf aus dem Fenster. Kurz betrachtet er den Hinterhoff. Gleich ist er wieder verschwunden. Am Himmel zeichnen die Flugzeuge grau gestrichelte Linien, die in der Abendsonne schimmern…

PHILIPP Es fällt einmal der Satz: „Vom freien Gedanken ist es nicht weit zur freien Liebe.“

GINA-JULIA Ja! Kroll wirft das seinem alten Freund Rosmer vor, im Hinblick auf Rebekka.

PHILIPP Gleichzeitig schwingt aber auch ein allgemeinerer, politischer Vorwurf mit, an Rosmer als Freidenker. Als wolle Kroll sagen: Siehst du, wenn du diese Politik weiterverfolgst, dann bekommen wir Unzucht und Chaos überall.

GINA-JULIA Es schwingt eben gleich mehr mit, etwas Allgemeines, Politisches.

PHILIPP Es gibt durch das ganze Stück hindurch so ein politisches Hintergrundrauschen. Das Private und Moralische ist organisch mit dem Politischen verbunden, untrennbar. Die Politik existiert nie einfach als abstrakter Prozess vor sich hin, wie das manchmal dargestellt wird.

GINA-JULIA Ja. Rosmer sagt auch einmal: „Glück für alle, geschaffen von allen. Das ist Demokratie.“ Das heißt, für ihn ist persönliches und privates Glück untrennbar mit dem Politischen verknüpft.

PHILIPP „Leider auch Theologie“ – das hat er studiert. Da lassen sie kurz den Faust aufblitzen, ich musste sehr lachen!

GINA-JULIA Ja, das war sehr lustig! Eine gewisse Kirchenkritik ist ja immer spürbar…

PHILIPP Mir ist aufgefallen, dass Rosmer und Rebekka nie genau zu wissen scheinen, was sie eigentlich wollen; sie ganz besonders. Einerseits will sie ihn heiraten, dafür hat sie sogar die vorherige Ehefrau in den Selbstmord getrieben. Andererseits weicht sie, als sie die Gelegenheit bekommt, doch zurück; und als Kroll in ihrer Vergangenheit wühlt und sie damit konfrontiert, ist die selbstbewusste, emanzipierte junge Frau doch ernsthaft erschüttert. Der Mensch könne mehr als einen Willen haben, sagt sie einmal. Eine tolle Stelle.

GINA-JULIA Sie arbeitet ja einerseits ganz zielstrebig daran, ihr Ziel zu erreichen. Gleichzeitig weicht sie, als es ernst wird, zurück…

PHILIPP Als wäre ihr ganzes emanzipiertes Selbstbewusstsein tatsächlich so hohl wie Rosmer…

GINA-JULIA Sie bekommt Angst, sie schreckt zurück. Ich überlege mir auch, ob sie nicht am Ende vor dieser Ehe als Ehe zurückschreckt, weil sie eben so emanzipiert ist und sich doch nicht endgültig binden will…

PHILIPP Aber sie beklagt doch immer, dass ihr freier, wilder Wille, der sie so weit gebracht hat, erloschen sei. Ich glaube, wir haben weniger eine Frau ist, die am Ende konsequent emanzipiert bleiben will, als einen wilden, wütenden Fortschritt, der sein Ziel verfehlt und ins Leere läuft. Eine Fortschrittskritik.

GINA-JULIA Oder sie kann ihr scheinbares Ziel – die Ehe – einfach nicht erreichen, weil sie einfach weiterwill… Beate ist tot. Rosmer sagt, er möchte nicht mit einer Leiche auf dem Rücken leben, da erscheint in der Inszenierung die weiß gekleidete, unschuldige Beate…

PHILIPP …wie ein Gespenst…

GINA-JULIA …ganz genau, und sie tanzt und legt sich um Rebekka – übrigens ein ganz wunderbares Bild -… das kann nicht funktionieren, weil sie diese Vergangenheit nicht loswerden.

PHILIPP Man könnte auch sagen: Der Fortschritt wird von dem eingeholt, was er unterwegs an Verwerflichem angerichtet hat, und letzendlich selbst zerstört, im Sinne einer Art späten Vergeltung – und wieder haben wir Fortschrittskritik.

GINA-JULIA In dem Moment, in dem Rosmer Rebekka den Antrag macht, möchte er ja diese alte Verantwortung für Beate auch loswerden, sie abwälzen auf Rebekka…

PHILIPP Was ja zuerst zu funktionieren scheint, aber dann alles zerstört…

GINA-JULIA Hier spielt, denke ich, auch Rebekkas Vorgeschichte eine Rolle. Sie als  uneheliches Kind, missbraucht durch den leiblichen Vater – das wird sanft angedeutet… Kroll, der sie ja damit konfrontiert, deckt damit eigentlich viel mehr auf, als er in dem Moment will.

PHILIPP Ihre Welt bricht dadurch zusammen, denke ich. Wie die von Rosmer, als er erkennt, dass er seine ganzen schönen Pläne und Visionen einer besseren Welt vergessen kann… irgendwie ist das ist der entscheidende Schubser, der beide in den Selbstmord treibt…

GINA-JULIA Man merkt wirklich, dass es sie mitnimmt, die Mimik bricht… überhaupt gewinnt diese Figur während des Stücks stark an Tiefe… erst denkt man, sie sei die kokette, selbstbewusste, rücksichtslose Frau in Rosmers Rücken, die Beate beseitigt hat und ihn dann noch politisch beeinflusst… eine leuchtende, stabile Frauenfigur ohne Flecken. Die tauchen jedoch auf im Laufe des Stücks.

PHILIPP Man könnte auch sagen, es zerfasert das ganze Bild, das man von ihr hat. Da meine ich schon wieder zu sehen, dass auch dieses positive Bild vom Fortschrittlichkeit – in Gestalt der emanzipierten Frau – zerstört wird…

GINA-JULIA Und Rosmer ist wie das weiße Pferd, von dem die Haushälterin Rebekka erzählt: Voll Unschuld stürmt er trotzdem haltlos in das Dunkle, wird verschluckt.

Ein schrecklich freundlicher Mensch bietet uns Pizza an, die sehr gut schmeckt…

GINA-JULIA Ich mag dieses Theater immer mehr!

PHILIPP Ja, nicht nur die schöne Umgebung und wie süß und klein und schnuckelig alles ist…

GINA-JULIA Nein, man bekommt auch Pizza!

PHILIPP Wunderbar!

GINA-JULIA Gut. Gut. Vielleicht ist es langsam Zeit für ein Fazit?

PHILIPP Ja. Eine gute Idee. Mein Eindruck ist durchweg positiv. Ein kluges, anregendes Stück wird auf kleiner Bühne gut umgesetzt, minimalistisch, stimmig, angenehm aufgelockert durch lustige Passagen, doch größtenteils ernst. Die lastende Stimmung der geschichtsschwangeren Schauplatzes wird spürbar und das Politische vorgeführt als untrennbar mit dem Privaten, Moralischen und auch dem Sexuellen verbunden.

GINA-JULIA Da kann ich dir nur zustimmen. Insgesamt war ja alles eher klassisch inszeniert. Keine Spezialeffekte…

PHILIPP … keine Nackten, keine Technomusik, kein Kunstblut. Ist das nicht eine vernünftige Art, ein so fortschrittskritisches Stück zu inszenieren?

GINA-JULIA Absolut.

Text: Gina-Julia Westenberger und Philipp Neudert

Bilder: Daniela Aldinger

Lust auf Theater bekommen? „Rosmersholm“ wird noch bis zum 21. Mai im Studio Theater Stuttgart gespielt, genaueres findet ihr hier.

Und falls ihr mehr über Henrik Ibsen und seine Werke erfahren wollt, findet ihr hier einen kleinen Hintergrund, geschrieben von unserer Kollegin Hannah.