Die Töne gehen tanzen

Was bleibt von einer Oper, wenn man ihr die Musik nimmt? Wo ist die Musik, wenn man sie nicht hören kann? Und wozu sollen Ohropax nützlich sein, wenn Instrumente und Stimme fehlen? Fragen, die die Theaterschaffenden von Goldstaub aufwerfen und mit der Inszenierung von Rat Krespel beantworten.

lichtgut_max-kovalenko_rat-krespel-szDiese Oper ist eigenartig. Sie ist laut, kommt aber ohne Stimme, ohne Musik aus. Nicht ganz: Rat Krespel im Zollamt Stuttgart ist nicht völlig musiklos, wenn man vom heutigen Sprachgebrauch der Musik absieht. Denn zu Zeiten der griechischen Antike, stand die Musik für weit mehr als Klangkünste – „Musik“ vereinte Poesie, Tanz und Tonkunst. Und aus diesen Sparten bedient sich Rat Krespel sehr wohl.

Ein Glücksgriff ist die Räumlichkeit, in der die Vereinigung von Film- und Theaterabsolventen aus Ludwigsburg, „Goldstaub“, die Novelle „Rat Krespel“ von E.T.A Hoffmann auf die Bühne bringt. Das Zollamt auf der Kulturinsel in Stuttgart hebt sich ab, es ist ein sphärischer Raum, ein Raum, der sich nicht eingrenzen lässt – mal findet die Szenerie innen, mal außen statt, mal in einem weitläufigen Ausstellungsraum, mal in einem Kabuff. Sitzplätze gibt es nicht, man ist in Bewegung. Gemeinsam mit dem Protagonisten Rat Krespel begibt man sich auf die Suche nach dem Geheimnis des guten Klangs. Der erste Gang führt in eine Ausstellung, ähnlich einem Versuchslabor: Rat Krespel schneidet hier Violinen auf, lässt Tastenanschläge einer Schreibmaschine erklingen, lässt Papier knittern und fühlen. Woher kommt der Klang?

Schlagartig ein Szenenwechsel: Die Gruppe verlässt das Gebäude – Rat Krespel ist fort. Nun erhebt sich ein anderer Schauspieler aus der Menge, der, um das Gebäude herum, zum nächsten Eingang führt. Tritt man mit Ohropax in den Ohren, gehörlos also, in Kontakt mit der Außenwelt, scheinen alle anderen Sinne umso gestärkter: Die Luft fühlt sich beim Gang in den Keller feuchter an, die Farben auf dem Wasenareal gegenüber erstrahlen kräftiger, das Parfum des Vordermanns riecht anders, intensiver. Was bleibt also, wenn man Musik nicht mehr hören kann? Fällt der Hörsinn aus, so werden die anderen Sinne geschult – und Musik ungwohnt nah wahrgenommen.

Angelangt am nächsten Schauplatz, ergibt sich ein befremdliches Bild: Ein Konstrukt aus Decken, einem Lampenschirm und Rüschen füllt die Spielfläche. Ein riesiger Sahnetuff. Was sich dahinter verbirgt, ist nicht direkt auszumachen. Nach und nach enthüllt sich eine Frau. Ein zartes Wesen, gekleidet in ein scharlachrotes Kleid, wallendes rotes Haar. Gleich einer Porzellanpuppe; zerbrechlich anmutend und doch selbstbewusst. Diese Frau, in der Novelle vorgestellt als Antonie, ist im Goldenen Käfig gefangen – zu ihrer eigenen Sicherheit, wie sich herausstellt. Denn Antonie singt für ihr Leben gern, leidet aber an einer Krankheit, die sie zwingt, keine kräftigen Töne von sich zu geben, ihr Körper könnte ihnen nicht standhalten. Antonie aber kann nicht anders als singen – und bezahlt dieses Bedürfnis letztendlich mit ihrem Leben. Die Schlussszene fesselt: Antonie singt sich die Seele aus dem Leib, tonlos wohlgemerkt, ausgesprochen stark in Gestik und Mimik, untermalt durch elektronische Bässe, die den Raum zum Schwingen bringen, bis sie daran zerbricht. Der Atem stockt beim Zuschauen, so mitreißend ist das Zusammenspiel aus Beat und Spiel.

Rat Krespel hat im Zollamt seinen Schauplatz gefunden, kann mit starken Schauspielern glänzen, allen voran Jessica Jaksa in der Rolle der Antonie, und überzeugt in seiner Eigenart. Es fordert ein „Sich-darauf-einlassen“ – wer sich fallen lässt, betritt mit allen Sinnen bisher unbekanntes Terrain. Eines sei gesagt: So eigenartig wie das Stück selbst ist auch der lang anhaltende (lautlose) Schlussapplaus.

Text: Leah Wewoda

Bildrechte:

Beitragsbild – Ronny Schönebaum

Bild im Text – Lichtgut/Max Kovalenko