Der Hals der Giraffe – Der Biologe ist auch nur ein Mensch

08. Oktober 2016

NORD – Staatsschauspiel Stuttgart

Ein trostloses Klassenzimmer. Spärliches Mobiliar aus dunklem, spröden Holz. Kaltes Neonlicht – eine kühle Atmosphäre. Konnotationen für Kahlschlag – die Stagnation unserer Gesellschaft in den Fängen des Demografischen Wandels. Die Zuschauer sind mittendrin in der Szenerie, die leere Halle gleicht einer Aula, einem funktionalen, usuellen Klassenraum. Man sitzt auf den harten Bänken, gleich den Schülern vergangener Dekaden.

Mit kongruenter Härte schreitet die Lehrkraft Inge Lohmark, voller Eifer und erhobenen Hauptes, durch die Reihen ihrer distinguierten Zöglinge. Inge Lohmark ist eine biedere Frau, ihre besten Jahre gehören schon längst der Vergangenheit an. Eine Tochter hat sie zur Welt gebracht und hat somit ihre Funktion als Mutter, zumindest unter biologischen Gesichtspunkten, erfüllt.

Ihren Lebenssinn findet die Biologie- und Sportlehrerin augenscheinlich in ihrem Beruf. Doch ein Blick hinter die bröckelnde Fassade der taffen Frau genügt, um festzustellen, dass dies alles nur ihr Hirngespinst ist. Die verkopfte Persönlichkeit vegetiert ebenso vor sich hin, wie die Amöben, die allmählich die alte Lehranstalt zersetzen. Das Charles-Darwin-Gymnasium steht vor dem Aus, die neunte Klasse, die Inge Lohmark übernimmt, wird der letzte – ihr letzter – Jahrgang sein.

Ihr Privatleben liegt brach, stigmatisiert durch ein gescheitertes Zusammenleben mit ihrem Ehemann, der lieber Zeit auf seiner Straußenfarm verbringt und den fehlenden Kontakt zu ihrer leiblichen Tochter, die inzwischen ihr Glück in Übersee gefunden hat.

Mit Pathos und darwinistischer Überzeugung agitiert sie den strengen autoritativen Erziehungsstil und unterrichtet in frontaler Manier. Hier gibt es keine weichgespülte Pädagogik, was zählt ist Leistung und Durchkommen – in der Biossphäre setzt sich schließlich auch stets das Starke durch. Doch eben das ist Inge Lohmark nicht – stark. Ihr Leben gleicht einem Scherbenhaufen, einer zerrütteten Existenz. Doch dann kommt Erika, eine apathische, zuweilen kecke und enigmatische Schülern ins Spiel.

Lohmark entwickelt Gefühle für das Mädchen. Gefühle, die sie anfangs vehement ablehnt. Gefühle, die ihr manifestiertes Weltbild ins Wanken bringen – Sehnsucht nach Zärtlichkeiten, Liebeswunsch, Aufarbeitung eines reflexiven gegenwärtigen und persönlichen vergangenen Mutter-Tochter-Komplexes. Gefühle, die ihre Fallhöhe determinieren und die Inszenierung als zentrales Motiv bestimmen.

Intendant Armin Petras überzeugt mit einer durchdachten Regiearbeit. Stilisiert erzeugt er Brüche zwischen Sarkasmus, Komik, Melancholie, Isolation und Cafard. Expressiv dokumentiert der Einsatz filmischer Sequenzen, die auf eine Tafel projiziert werden und an die Stilistik der Dogma 95 erinnern, den Zerfall ebenjener Hauptprotagonistin und der Bildungseinrichtung in den verwaisten Weiten Ostdeutschlands.

Das Publikum wird in Petras schlanker Inszenierung direkt angesprochen und ein Jeder muss selbst versuchen Lohmarks rudimentäre Bruchstücke zu ihrer Person und ihrer Vergangenheit zu entschlüsseln. Anja Schneider (Inge Lohmark) und Svenja Liesau (Erika) brillieren und harmonieren eindrucksvoll miteinander. Anja Schneider vereint in ihrer Rolle die Erzählperspektive ebenso geschickt wie die kühle Autorität der Lehrerin. Sie wirkt in ihrer Rolle depressiv und prüde. Jede Bewegung und jede Geste lassen sie um Jahre älter erscheinen und zeigen den somatischen sowie psychischen Verfall einer Depression auf. Liesau wirkt als Schulmädchen äußerst genuine-pubertär und gibt auch ihrer Rolle viel Tiefe und eine Nuance trauriger Orientierungslosigkeit – suchend auf der Suche nach dem Weg.

hals_der_giraffe_jm_0585»Der Hals der Giraffe« nach Judiths Schalanskys gleichnamigen Bildungsromans ist ein kurzweiliger, gelungener Theaterabend. Eine personelle Sozialanalyse mit einer starken schauspielerischen Leistung. Ein abruptes Ende, passend zur Perspektivlosigkeit oder sogar ein Indiz für einen Neubeginn der Hauptfigur? Wertschätzender Applaus für eine solide Gesamtleistung.

 

Text: Tobias Frühauf und Philipp Wolpert

Bildrechte: Julian Marbach