Lolita – Ein Drehbuch.

Postmoderner Klamauk

Staatsschauspiel Stuttgart.

Premiere, 03.11.2016

Zwei Kinderhände, ein fragmentäres Erinnerungsbruchstück in den schleimigen Windungen eines Mannes – vier Männer. Humbert Humbert ein introvertierter Literaturprofessor, der rastlos und entwurzelt, zusammen mit zigtausenden anderen unbekannten Schicksalen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten seinen Frieden sucht.

Gepeinigt und zerrissen flüchtet er vor seiner europäischen Vergangenheit, als ob er sein moralisches Siechtum ebenso leicht in der alten Welt zurücklassen könnte, wie seine Exfrau. Der Tumor der an seiner Selbstbeherrschung nagt und die Ketten seiner instinktiven Triebe brechen möchte schimpft sich Begierde. Die Begierde nach Nymphetten. Gottgleiche Wesen, außerirdische Avatare aus fremden Sphären von Anmut und Liebreiz, feengleich. All diese Attribute vereinen sich in ihr, in Lolita – die Personifikation der Kindsfrau.

Humberts gesamtes Verlangen zentriert sich auf die zwölfjährige Tochter seiner Vermieterin Dolores Haze. Seine pädophilen Neigungen rühren von einem traumatisierenden Erlebnis aus seiner Jugend. Humberts erste große Liebe, ihre Wege kreuzten sich im Urlaub auf der Riviera, fiel einem Lungenleiden zum Opfer. Ihm blieb lediglich ihr Grabstein.

Spielerisch nähert er sich, zur Stillung seiner Wollust, Lolita an und dokumentiert seine Erfolge und sexuellen Imaginationen säuberlich in seinem Tagebuch. Um weiterhin in der Nähe seines Objektes der Begierde zu bleiben heiratet er schließlich ihre Mutter Dolores Haze. Als diese dann eines Tages, während Lolitas Abwesenheit auf einem Freizeitlager, auf Humberts Tagebuch stößt und seinen Deckmantel, wonach es sich bei dem Büchlein lediglich um ein Romanmanuskript handelt, entlarvt, gerät eine folgenreiche Lahne in Bewegung. Dolores Haze wird von einem Auto erfasst, als sie völlig entgeistert aus dem Haus eilt, um Lolita aus den Fängen Humberts zu befreien – sie stirbt noch an der Unfallstelle. In einer Kurzschlussreaktion holt Humbert Lolita von ihrem Ferienlager ab – Stiefvater und Stieftochter begeben sich auf eine Fahrt ins Blaue – ein Irrkreis mit schwerwiegenden Konsequenzen.

Schmetterlinge sterben, Klopapierrollen gleiten durch die Lüfte, ein Gockel krächzt, Populärmusik wummert aus Lautsprechern, eine humane Hülle torkelt über die Bühne – Regisseur Christopher Rüping schöpft in seiner Inszenierung aus den Vollen seines postmodernen Repertoires. Als Vorlage dient Vladimir Nabokovs, in akribischer Feinarbeit angefertigte, dramaturgische Vorlage seines gleichnamigen Skandalromans »Lolita«, die dieser für den renommierten amerikanischen Filmregisseur Stanley Kubrick konzipierte. Allerdings war Nabokov mit dem Ergebnis der Traumfabrik Hollywood alles andere als zufrieden, da sein Drehbuch weitestgehend eingestampft wurde und relevante Handlungsstränge verloren gingen.

Rüpings Inszenierung hat sich daher das Ziel gesetzt, die zentralen Inhalte des epischen Werkes, gemäß den Vorstellungen des Urhebers, für die Bühne zu adaptieren. Dementsprechend hat Rüping seine Inszenierung cineastisch angelegt. Schauspieler die als Kameramänner und Mitglieder der Technikcrew fungieren wuseln über die Bühne, zahlreiche Schnitte sorgen für dynamische Übergange, Videoprojektionen portraitieren die Bühnenakteure und deren Mimenspiel. Diese Effekte werden durch das Bühnenbild Jonathan Mertz’ ergänzt, das als Filmkulisse skizziert ist und den Spektatoren das Gefühl gibt, sich mitten in den laufenden Dreharbeiten des Filmes zu befinden. Hierzu passt ebenso das ironisch- überzeichnete, laissez-faire Auftreten der Schauspieler und die anfänglichen Audioeinspielungen des Produktionsteams, die das schöpferische Umfeld der Filmindustrie persiflieren wollen.

Dennoch muss man schlussendlich konstatieren, dass die Darbietung des Stuttgarter Staatsschauspiels nicht mit den eigentlichen Intentionen Nabokovs in Einklang gebracht werden kann. Rüping präsentiert zwar ein stimmiges, in sich schlüssiges Konzept, das unter anderem auch Nabokov eine Hommage setzen möchte, beispielweise als die Schauspieler ihre Treibjagd auf Lepidopteren eröffnen – Nabokov war zu Lebzeiten ein passionierter Schmetterlingsforscher.

Es bleibt allerdings eine, wenn auch sehr kurzweilige, Effekthascherei, eindringliche, ergreifende Bilder zwischen Lolita und Humbert werden beispielsweise durch einen aufgeplusterten Hahnerich destruiert und ins Ulkige gezogen. Es bleibt positiver Trash, der zwar zuweilen durchaus amüsant ist und den Publikum einige flapsige Lacher entlockt – sollte man sich allerdings eine ernste Abhandlung mit dem psychologischen, gemütserregenden Phänomen der Pädophilie, geschweige denn eine klassische Theaterinszenierung nach Aristoteles erhoffen, so werden diese Erwartungen enttäuscht.

Lolita ein Drehbuch von Vladimir Nabokov 3. November 2016 Regie Christopher Rüping Regie: Christopher Rüping Bühne: Jonathan Mertz Kostüme: Lene Schwind Musik: Christoph Hart Dramaturgie: Bernd Isele Auf dem Bild: Svenja Liesau Foto: Conny Mirbach Honorarfrei
Lolita
ein Drehbuch von Vladimir Nabokov
Auf dem Bild: Svenja Liesau
Foto: Conny Mirbach

Unter den Darstellern gilt es insbesondere die Nachwuchsschauspielerin Jana Neumann hervorzuheben, die trotz ihres jungen Alters, eine enorme Bühnenpräsenz besitzt. Sie verkörpert eine der Inkarnationen Lolitas, die eine Allegorie der spezifischen, diametralen Wesenszüge und mentalen Entwicklungsstadien der Kindsfrau sind. Neumann verleiht der naiven, mit infantiler Unschuld behafteten Protagonistin eine glaubhafte, emotional-berührende Stimme. Chapeau für diese großartige Leistung und das phänomenale Auftreten vor den gefüllten Rängen des Theaterhauses.

Ihr Gegenpart Svenja Liesau figuriert eine naseweise, der Koketterie anheimgefallene Lolita, eine grandiose Symbiose zwischen kindlicher Unverdorbenheit und libidinöser Seduktion. Es entsteht eine intensiv-ergreifende Szene als sie erstmals, seit ihrem Feriencamp, auf Humbert trifft, einen kirschroten Lollipop andächtig lutscht und an der ethischen Standfestigkeit des Literaturprofessors, mit ihrer durchtriebenen Berichtserstattung ihrer ersten sexuellen Erlebnisse, rüttelt.

Andreas Leupold verkörpert Humbert, der ebenso wie Lolita auf mehrere Schauspieler aufgeteilt wird, hoch-emotional. Seine Leistung wandelt das übliche Täterprofil in das eines Opfers, das geprägt von seiner Vergangenheit und Lebenssituation, den Spektatoren viel Identifikationspotential bietet. Seine Darstellung ist ein Lichtblick, wirkt stets zynisch und real. In der Interaktion mit Lolita offenbart er seine innere Zerrissenheit und die Qualen der Lust, die ihn unaufhörlich malträtieren und an seiner Seele bohren. Ein menschlicher Spielball zwischen den Fronten, den unaufhörlich pulsierenden antithetischen Polen – Moral und Begierde.

Zu guter Letzt muss man festhalten, dass Rüpings Inszenierung starke Momentaufnahmen umfasst, die allerdings umgehend durch die extremen, postmodernen Komponenten verfälscht werden. Eine gefühlte Provokation, eine antagonistische Synthese aus Ernsthaftigkeit und verzerrender Komik, ein unentschlossenes Publikum – verhaltener Applaus zur Würdigung der schauspielerischen Leistung und gellende Bravo-Rufe.

 

Text: Tobias Frühauf

Bildrechte: Conny Mirbach