SCHWÄBISCH HALLER PUPPENFAUST

Eine fantastische Reise durch das staunenswerte Leben des berüchtigten Doktor Johann Faust

Gerhards Marionettentheater, Schwäbisch Hall

12. November 2016

Was das straff besetzte Team von Gerhards Marionettentheater in Schwäbisch Hall Abend für Abend leistet ist wahrhaftig großartig. In einem alten, zum Theater umfunktionierten, Schafstall befindet sich, neben der hauseigenen Werkstatt und dem Marionettenfundus, ein überaus einladender Theatersaal im nostalgischen Glanz vergangener Dekaden. Eine Rarität, welche zweifelsohne das darstellende Gewerbe im süddeutschen Raum bereichert. Anderthalb Jahre nimmt der Entstehungsprozess in Anspruch bevor sich der Vorhang für eine Neuproduktion öffnet. Nach der Selektion und Bearbeitung geeigneter dramatischer Inhalte werden die Charaktere skizziert. Anhand dieser Vorlagen werden die Figuren anschließend plastisch geformt und in akribischer Feinarbeit aus Lindenholz geschnitzt. Professionelle Bühnenschauspieler und Synchronsprecher hauchen den Holzfiguren die Eloquenz und eine Seele ein. Die entsprechenden Audioeinspielungen werden im hauseigenen Studio aufgezeichnet und ergeben eine Symbiose mit selbst komponierter Musik, sphärischer Beleuchtung und dem exzeptionellen Bewegungsrhythmus der Marionettenspieler. Streng getaktet und mit Präzision koordinieren sie die Bewegungsabläufe der hölzernen Protagonisten, sodass dynamische Übergänge in einem spezifischen Tempus ermöglicht werden.

08-gerhards-marionettenEin schwacher Atem aus den Unweiten des unteren Mundus. Dicke Nebelschwaden greifen gleich klammen, knochigen Fingern nach den Silhouetten der anwesenden Spektatoren. Der Styx plätschert unerlässlich in den Höllenschlund. Auf einer hölzernen Barke schippert der Fährmann Charon voller Unmut die verloreneren Seelen der irdischen Tunichtgute in den Tartaros.

Pluto, der Höllenfürst und Beelzebub erster Ordnung, tritt aus den Flammen des ewig lodernden Fegefeuers, gefolgt von seinen nutzlos-invaliden Krampussen und erfolgslosen Teufeln. Einzig und allein der gewiefte Mephistopheles weiß Abhilfe für die Unzufriedenheit von Charon und Pluto. Es fehlt an jeder Ecke an wertvollen Seelen für die zu verrichteten Frondienste und die zu ertragenden Foltermethoden in Satans Gefilden. Das auserkorene Opfer ist niemand geringeres als der grantige und hochmütige Doktor Johann Faust, der unlängst der Religion, Wissenschaft und Philosophie abgeschworen hat. Was das Publikum dann in der kurzweiligen 135-minütigen Spielzeit (mit Pause) erleben kann, ist der staunenswerte Aufstieg und tragische Fall des berühmtberüchtigten Erzpraktikers.

Faust ist die Negativfolie, der abgehobene, egozentrische, intellektuelle und wollüstige Aristokrat, der letztendlich vom göttlichen Wege abkommt und die »Büchse der Pandora« in Form der Helena öffnet. Dessen Gegenpart bildet der lebensmuntere und scheinbar-einfältige Hanswurst, der den Müßiggang huldigt und zunächst der Trägheit erliegt, doch stets die Menschlichkeit ehrt und als gemeiner Mann auf dem Boden bleibt. Er trotzt den Versuchungen der Höllenkreaturen und verweist auf seine hölzerne Beschaffenheit, die im Gegensatz zu den scheinbar lebensnahen Figuren, doch am Menschlichsten ist – eine Ode an das Leben. Am Ende ist es Hanswurst, der die Karriereleiter erklimmt und Faust derjenige Schelm, der voller verspäteter Buße selbstreflexiv auf sein zerbrochenes Leben zurückblickt.

14-gerhards-marionettenBildhaft steht das Bühnengeschehen gemäß dem spätbarocken Puppentheater als unterhaltende Lehrinstanz mit Einsatz für die unteren Stände des feudalistischen Systems. In die Riege der literarischen Größen Goethe, Heine, Simrock, Jarry reiht sich die eigens für Schwäbisch Hall konzipierte Theaterfassung des ehemaligen wissenschaftlichen Leiters des FaustMuseums und Faust-Archivs Dr. Günther Mahal nahtlos ein. Der Spieltext im Kreuzreim-Schema ist die Überraschung des Abends. Voller Sprachästhetik, Wortwitz, Intellekt und brillanter Melodik überzeugt der Bühnentext im rhythmisch wechselnden Metren. Mal ist es italienisches Stegreiftheater, mal kunstvolle spanische Mantelund Degenkomödie, mal derb-vulgärer Sarkasmus.

Die aufgezeichneten Tonaufnahmen der externen Sprecher (Dorothee Basse-Sklenar, Monika Krug, Gerhard Mundorff, Ivan Raeymaekers, Ewald Tkocz) orientieren sich an der facettenreichen, akzentuierten und verschrobenen Puppenspielsprache. Die Stimmen sind einzigartig, authentisch und überzeugen allesamt mit einprägsamem Timbre. Die Inszenierung von Wolfgang Gerhards ist ein fantastischer Bilderrausch. Sein Talent stammt gewiss von seinem Vater Fritz Gerhards, der legendäre Gründer der Gruppe, der einst von Wuppertal nach Schwäbisch Hall umsiedelte und in jungen Jahren auf der Schauspielschule Luise Dumont am Schauspielhaus Düsseldorf sein Handwerk erlernte. Die alten Faust-Puppen und Bühnenbilder sind Antiquitäten aus der Zeit Fritz Gerhards. Sie erlebten bereits die Goldenen Zwanziger und überlebten den Weltenbrand des zweiten Weltkrieges. Aufwendig restauriert finden sie in der angesprochenen Fassung ihre Wiederverwendung.

So tänzelt seit der Premiere 1999 Mephistopheles als leichtfüßiger Pierrot über die Bühne, während Faust beinahe human altert und die Zuschauer vergessen, dass er nur aus Holz ist. Wenn es einem Puppenspieler gelingen kann, dass Fäden zu Adern werden, durch die wallendes Blut strömt und die Substanz des Stammes zu Haut, Fleisch und Knochen wird, dann verfällt man völlig der Magie dieses Genres. Chapeau vor den Tausendsassas des Ensembles Karin Gerhards, Nico Gerhards, Margit Merz, Verena Unsin, Astrid Schmitt-Königer, Alexander Schulz sowie ihrer ehrenamtlichen Mitarbeiterin Käte Hoffmann.

 

Text: Philipp Wolpert und Tobias Frühauf

Bildrechte: Gerhards Marionettentheater e. V.