Der Tod in Venedig

In „Der Tod in Venedig“ führt die Oper Stuttgart erstmals seit acht Jahren Oper und Tanz zusammen. In Kooperation mit dem Stuttgarter Ballett setzt sie Thomas Manns gleichnamige Novelle auf der Bühne um. Im Mittelpunkt des Geschehens: Das Tun und Denken eines Autors, der des Schreibens müde geworden ist.

„Kein Schlaf stellt mich wieder her.“ Gustav von Aschenbach ist Schriftsteller, „berühmt als Meisterdichter“, seines Erfogsgarants, des Schreibens, müde; er unterliegt einer Schaffenskrise. Als einziger Ausweg erscheint ihm, sich seinen ortsbezogenen Zwängen zu entziehen, weshalb er – wider seiner hoch angepriesenen Selbstdisziplin – dem inneren Lockruf folgt und nach Venedig geht.

Einem Venedig, das auf Gondeln verzichtet, beziehungsweise durch Gepäckglocken, wie man sie aus der Lobby eines Hotels kennt, ersetzt. Zuständig für die Ausstattung Katharina Schlipf, deren Anliegen es ist, aus dem Alltag präsente Bilder abstrahiert auf die Bühne zu übertragen. Das Spiel mit dem Gewohnten sorgt zwar zunächst für Verwirrung, gelingt aber.

In Venedig angekommen, nimmt Aschenbach mehr wahr, als ihm lieb ist: Er fühlt sich zu dem polnischen Knaben Tadzio hingezogen, knickt ein, wodurch ihm ein weiteres Stück seiner Selbstdisziplin abhanden kommt. Das bewirkt innere Zerrissenheit, mitunter zwischen bleiben und gehen, wobei er den Ernst der Lage lange ausblendet. Das führt schlussendlich dazu, dass er seine Flucht versäumt; Tadzio hält ihn in der Stadt.
La Serenissima, eine Stadt, die so ambivalent ist, wie der Hauptprotagonist zerrissen, eine Stadt zwischen Glanz, Glorie und dem Siechtum, das unaufhaltsam in den Kanälen der Lagune gedeiht.

In der Inszenierung des amtierenden Hauschoreografen Demis Volpi reißt Aschenbach das Publikum mit seiner feurigen Begierde und seiner innigen Sehnsucht nach Tadzio in ein Wechselbad der Gefühle. Er wird Spielball der antagonistischen Extreme und durchlebt beinahe zeitgleich den dionysischen Rausch und das fiebrige Delirium – Hoffnung und Erlösung prallen auf Melancholie und Resignation.

Konstrukte aus Plexiglas legen sich wie ein Filter über die Stadt wie auch über Aschenbachs Sinne und gewähren nur spärliche Einblicke in den sich dahinter befindlichen Glanz. Die schemenhaften Konturen wirken so verlockend und lassen nur annähernd das Ausmaß einer Erfüllung erahnen.

Tenor Matthias Klink verkörpert einen strauchelnden, aus dem Lot geratenen Aschenbach. Mit seiner enormen Bühnenpräsenz schlägt er glaubhaft den Spagat zwischen Depression und Hoffnung. Ihm gebührt Achtung für seine Ausdauer und Leichtfüßigkeit, mit der er behände über die Bühne tänzelt. Es ist unmöglich sich seiner Stimmgewalt und Spielfreude zu entziehen, man leidet förmlich mit ihm, teilt seine unerfüllten Sehnsüchte und stirbt mit ihm in einem ergreifenden Todeskampf.

Sein Gegenpart Georg Nigl bildet einen hervorragenden Kontrast zu der Figur des Aschenbachs und besticht durch seinen satten, kräftigen Bariton. Gleich eines mephistophelischen Avatars tritt er in mehreren Rollen auf, die Aschenbach im Verlauf der Handlung begegnen.
Ein zynischer Marionettenspieler, der berechnend und gewitzt, nie die Fäden aus der Hand gleiten lässt und, sich Aschenbachs Innenleben bewusst, seine eigenen orphischen Pläne mit dem gescheiterten Schriftsteller zu verfolgen scheint.

Erquickend treten die Tänzer des Balletts in Erscheinung, die wesentlich zur Dynamik der Inszenierung beitragen. Mit ihrer Heiterkeit dämpfen sie die theatralische Schwere des Stoffes, lassen das Publikum aufatmen und lockern die Stimmung.
In fließenden Bewegungen schlängelt so die polnische Familie über das Pakett, gleich der Gischt, die seicht kreisend auf den Lido schwemmt. Diese Familie zeichnet sich durch ihren eigenartig schlängelnden Gang aus, welche sie vom Rest des Bühnengeschens abhebt – man blickt verwundert, fasziniert von der Art der Fortbewegung auf; Aschenbach führt diese Faszination noch weiter.
David Moore als Apollon macht der antiken Gottheit alle Ehre, in Gold getüncht, das Haupt mit einem Lorbeerkranz geziert, zeigt er grazile Posen und komisch anmutende Figuren. Seine enorme Körperspannung lässt ihn übermenschlich wirken, eine überzeichnete Karikatur, die das klassische Theater mit einem Augenzwinkern persifliert und für so manchen Lacher sorgt. Dann beispielsweise, wenn die Bühne ein einziger playground des Kitsches wird; als genüge Gold soweit das Auge reicht noch nicht, triumphiert zentral platziert eine begehbare Lotusblüte, die Apollon zum Podest wird und ihm, mit einem goldenen Bogen überspannt, den Titel einer Statue verleiht.

Tadzio und die Knaben aus seinem Gefolge werden durch Schüler der John-Cranko-Schule verkörpert und machen Aschenbachs Verlangen greifbar. Adrett tänzeln die künftigen Solisten über die Bühne, strotzen vor Kraft und Jugend, wirken zugleich kokett und verletzlich. Sie geben dem Begriff Fantasiewesen eine Gestalt, wie sie unbedarf gleiten und ihre Körper strecken.

Das Opernorchester unter der Leitung von Kirill Karabits spielt gewohnt brilliant auf und meistert alle Passagen von Benjamin Brittens, mit anspruchsvollen Klavierpassagen durchzogenen, eigenwilliger Partitur mit Bravour.

Eine Reizüberflutung, surreale Szenerien reihen sich beinahe cineastisch aneinander, die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen. Wenn auch gegen Ende schleppend, eine gelungene Inszenierung, die getanzten Passagen gerne mehr Raum schaffen kann.

Text: Tobias Frühauf und Leah Wewoda
Bildrechte: Oper Stuttgart